Liebe ist wie Bungeejumping *3*

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Die Stille, die herrschte als sie die Haustür hinter sich schloss, gefiel Alany nicht. Bis vor kurzem hatte Tante Carolines freundliches Gesicht sie begrüßt, wenn sie von der Schule nach Hause kam, doch diese Zeiten waren vorbei. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über Alanys Gesicht, doch sie verdrängte alle Gedanken an fürsorgliche Mütter rasch. Sie hatte nie groß über ihre eigene nachgedacht und den Umstand, dass Joanna Angel sie nach ihrer Geburt verlassen hatte, ohne Jammern und Klagen akzeptiert. Doch Mariahs Rebellion hatte alte Wunden aufgerissen und Alany klar gemacht, wie sehr sie sich um ihre Familie sorgte.

Zuerst versuchte Alany, sich mit Hilfe ihrer Hausaufgaben abzulenken. Eine Weile lang funktionierte das, doch schließlich flogen die Sinuskurven und quadratischen Funktionen so unkoordiniert in ihrem Kopf herum, dass sie aufgeben musste.

Nachdenklich kaute Alany an ihrem Bleistift herum und sah aus dem Fenster. Der Wald in der Ferne wirkte beruhigend auf sie, denn seine starken Bäume vermittelten die Vorstellung von Halt in stürmischen Zeiten. Einerseits würde ein Spaziergang ihr gut tun. Andererseits wollte Alany mit jemandem reden und sie wusste genau mit wem. Allerdings fehlte ihr der Mut, Milan anzurufen.  Seufzend legte sie sich ins Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Hoffentlich verging die Zeit wie im Flug, sodass ihr Vater bald heimkam. Alany versuchte, ihren Kopf komplett zu entleeren und an nichts zu denken.

„Drrrrr..." Verdammtes Telefon! Zunächst blieb Alany liegen und ignorierte den nervigen Klingelton, doch die Person am anderen Ende der Leitung hängte nicht auf. Grummelnd kämpfte Alany sich aus dem Bett und ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihr Haar in alle Richtungen abstand. „Vielleicht gibt es Neuigkeiten von Mariah", überlegte sie, als sie die Treppe hinunterlief und nach dem Hörer griff.

„Alany?" 

Sie träumte. Es musste sich um einen Traum handeln. Wie sehr hatte sie sich nach seiner Stimme gesehnt und plötzlich vernahm sie sie ganz nah an ihrem Ohr, als würde er ihr etwas zuflüstern. „Milan?" Alanys Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete, er könne es durch die Leitung hindurch hören.

„Hey." 

Alanys Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, da Milans „hey" so süß wie Honig klang. 

„Lust auf einen Spaziergang?"

                                                                     *

Beim Abendessen konnte sich Alany nicht mehr daran erinnern, worüber genau sie mit Milan gesprochen hatte. Selbstverständlich musste sich ihre Unterhaltung um Mariah gedreht haben und vielleicht hatte sie ihre Mutter erwähnt, doch die Details waren wie ausgelöscht. Stattdessen hatten sich der der sanfte Klang von Milans Stimme und das Kribbeln auf ihrer Haut, wenn er ihren Namen nannte, so tief in Alanys Gedächtnis gebrannt, dass es ihr schwer fiel, Jamie zuzuhören.

„Du freust dich auch darüber, Lenny, nicht wahr?", fragte Jamie plötzlich in einem dermaßen scharfen Tonfall, dass Alany aus ihrer Traumwelt hinauskatapultiert wurde.

„Ja, klar", antwortete Alany schnell, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, wovon ihr Vater sprach. Sie wollte auf keinen Fall, dass er sauer wurde, weil es in ihrem Leben momentan Wichtigeres gab als die Schilderung seines Tages. Genau genommen konnte sie nichts dafür, dass ihre Hormone verrückt spielten. Milan tauchte schließlich automatisch in ihren Gedanken auf.

„Greg würde vor Freude an die Decke hüpfen, wenn er deine Begeisterung über seine Genesung sehen könnte", lüftete Jamie nun das Geheimnis, wobei er seine Augenbrauen fragend hochzog.

Achso. Greg, das Fußballspiel, das Foul. Alany war mitten ins Fettnäpfchen getreten. Und das, obwohl sie Milan vielleicht nie getroffen hätte, wenn der Spieler der Ladybirds Greg nicht verletzt hätte.

„Die Rippen sind also verheilt?", fragte Alany vorsichtig nach.

„Anscheinend sind deine Ohren verklebt, denn genau das hab ich dir vor zwei Minuten erzählt!", erwiderte Jamie, doch er klang eher neugierig als verärgert.

„Tut mir leid. Ich bin so froh, dass Greg keine Schmerzen mehr hat", versuchte Alany ihre Unaufmerksamkeit wieder gut zu machen und stellte ihrem Vater hastig ein paar weitere Fragen über Gregs Genesung. Zu hastig, wie es schien, denn Jamie hakte nach. 

„Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?", fragte er eindringlich, doch zugleich auch mit leicht neckendem Unterton.

„Nein", antwortete Alany unsicher, denn sie wollte ihr Treffen mit Milan zunächst für sich behalten. Wie konnte sie sich ihrem Vater anvertrauen, wenn sie den heutigen Tag selbst noch nicht verarbeitet hatte?

Jamie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Alany war dankbar dafür, dass er sie nicht gegen ihren Willen ausquetschte. Wenn sie bereit war, mit ihm über Milan zu reden, würde sie von sich aus auf ihn und er wusste das.

Nachdem Alany ihre Tomatensuppe ausgelöffelt und Jamie beim Abwasch geholfen hatte, fragte er sie halbherzig, ob sie ein Premier League Spiel mit ihm anschauen wolle. Manchester United spielte gegen den FC Liverpool, weshalb der Großteil der männlichen Population Englands zuschaute. Auf ihr „Nein, danke, ich bin zu müde" reagierte Jamie kaum. Er ahnte wahrscheinlich, mit wem sie den Nachmittag verbracht hatte und dass Fußball auf ihrer Prioritätenliste nach unten gerutscht war.

Sobald Alany ihr Zimmer betrat, ließ sie sich bäuchlings aufs Bett fallen und knüllte ihren Lieblingspulli unter ihren Armen zusammen. Sie fühlte sich schummrig, aber glücklich. Halt- dies war nicht die richtige Atmosphäre zum Schwärmen. Mit einem Satz sprang Alany aus dem Bett und steuerte auf ihre Kommode zu. Zielsicher holte sie einige orangene Kerzen heraus und verteilte sie in ihrem Zimmer. Dann drehte sie am Lichtschalter, bis es dämmrig wurde, zündete die Kerzen an und legte sich mit dem ‚I love you' - Kissen zurück aufs Bett.

Alany konnte ihr Glück kaum fassen. Schon als Kleinkind hatte sie davon geträumt, eines Tages von einem wunderschönen Prinzen auf einem Schimmel zu einem romantischen Ausritt eingeladen zu werden. Zugegebenermaßen war Milan kein Prinz, sondern der Sohn des Chefarztes und ein Pferd hatte er auch nicht, doch für sie war er wie ein Sechser im Lotto. Nur realer.

Alany stützte ihren Kopf auf die Hände und ließ ihren Blick über all die Kerzen, die sie im Raum aufgestellt hatte, schweben. Was würde sie dafür geben, Milan neben sich auf dem Bett liegen zu haben ... Natürlich war es möglich, dass er sie aus reiner Höflichkeit zu dem Spaziergang eingeladen hatte oder um mit ihr über Mariah zu reden. Tief in ihrem Inneren war Alany sich jedoch sicher, dass dem nicht so war. Zu oft hatte Milan sie angelächelt, zu oft hatte er so fröhlich gelacht, wie nur wunschlos glückliche Menschen lachen. Manchmal hatte er sogar seine Hand wie zufällig an der ihren entlang streifen lassen. Außerdem hatte er ihr beide Male, als sie den Mut aufgebracht hatte, ihm direkt in die Augen zu sehen, zurückgeblickt.

Alany sah Milans Gesicht wenige Zentimeter vor dem ihren und ihr Herz begann Purzelbäume zu schlagen. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihren Verstand schien sie nicht mehr zu brauchen, denn es existierten keine Worte für das, was sie fühlte. Alany schloss ihre Augen und stellte sich vor, wie Milan ihre Arme um sie legte. Sie fühlte einen wohligen Schauer ihren Rücken hinunterlaufen. Dann zog der Milan in ihren Gedanken sie näher an sich heran und flüsterte ihr liebevoll etwas ins Ohr, sodass sie seinen warmen Atem spüren konnte. Schließlich küsste er sie so leidenschaftlich, dass Alany schwindlig wurde. Zunächst erwiderte sie seinen Kuss. Anschließend hielt sie inne, um das Gefühl zu genießen, seine sanften Lippen auf den ihren zu spüren. Langsam schienen ihre Münder zu verschmelzen.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Où les histoires vivent. Découvrez maintenant