Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *4*

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„Genug für heute!" Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als Jamie den Arbeitstag für beendet erklärte. „Uff!" Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete ihr Werk sichtlich zufrieden. Die Unterkonstruktion stand und sah vielversprechend aus. 

Alany wischte sich die verschwitzten Finger an ihrer Hose ab. „So kaputt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt", murmelte sie und stolperte Richtung Haus. Selten hatte die Dusche in ihrem blau gekachelten Badezimmer so einladend gewirkt. Wahrscheinlich hatte Jamie sich die Sache mit der Vater- Tochter- Bindung einfacher vorgestellt, denn an diesem Tag hatten sie nicht viel miteinander geredet. Der Bau der Unterkonstruktion hatte zu viel Konzentration und Präzession erfordert, um nebenher ein Pläuschchen zu halten.

Alany war dennoch froh, dass Jamie sich mehr um sie kümmern wollte. Sie musste dringend ihre Gedanken sortieren und hoffte, dass er ihr dabei behilflich sein würde. Vor diesem Sommer hatte Jamie über alles und jeden in ihrem Leben Bescheid gewusst, doch seit dem Umzug hatte sich das schlagartig geändert. Gehörte diese Abnabelung zum Erwachsenwerden? In Zukunft würde sie Jamie nicht mehr jedes Detail aus ihrem Leben erzählen, doch noch verspürte sie das Bedürfnis, ihn zumindest in ihre kleinen Geheimnisse einzuweihen. Wenn jemand über die Höhen und Tiefen eines Teenagerlebens Bescheid wusste, dann Jamie. Einerseits brannte Alany darauf, mit ihrem Vater über ihren ersten Kuss zu reden, andererseits fürchtete sie sich davor.„Hoffentlich bietet mir unser Projekt eine Möglichkeit, Paps von Milan und mir zu erzählen ohne mir wie ein Idiot vorzukommen", überlegte Alany, während sie das Wasser aufdrehte.

                                                                       *

Am nächsten Tag war Alany im Unterricht unkonzentriert, da sie gedanklich am Gartenhaus weiterbaute. Zuhause angekommen legte sie ihre Schultasche achtlos in einer Ecke ab, schlüpfte in ihre Arbeitsklamotten und lief unternehmungslustig zur Baustelle im Garten. Am liebsten hätte sie unverzüglich angefangen, doch wahrscheinlich wäre es besser zu warten, bis Jamie von der Arbeit zurück kam. Alany sehnte den Augenblick herbei, indem die große Werbekampagne für Nike fertig gestellt war. Soweit sie es mitbekommen hatte, befand sich die Kampagne im finalen Stadium, weshalb ihr Vater innerhalb der nächsten Woche wohl die eine oder andere Nachtschicht einlegen würde.

Alany seufzte. Wie es aussah, würden Jamie und sie erst am folgenden Wochenende an ihrem ‚Projekt' weiter werkeln. Wenigstens begannen die Herbstferien in einer Woche. Enttäuscht zog sie sich in ihr Zimmer zurück, jedoch ohne sich abermals umzuziehen. Hausaufgaben kümmerte es schließlich nicht, ob man sie in der Jogginghose oder im Ballkleid erledigte- der einzige Pluspunkt, den sie boten. Neben „Kulturen der Welt", Biologie, und Geographie hatte Alany in diesem Schuljahr auch Englisch belegt. Im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden fand sie das Fach weder langweilig noch schwer, doch sie störte sich an der Menge an Aufsätzen, die sie schreiben musste. Im Moment las die Klasse „Stolz und Vorurteil" von Jane Austen. Alany mochte das Buch, doch Zachy konnte sich nicht in die gesellschaftlichen Zwänge der damaligen Zeit einfühlen. 

Zachys Unverständnis ging soweit, dass er öffentlich über Mister Darcy herzog. „Dieser Schnösel stellt sich an!", hatte er gewettert, nachdem Stephen, mit dem Zachy seit seinem Auftritt im Kokusnuss- BH auf Kriegsfuß stand, mit wenig Enthusiasmus die erste Begegnung von Elizabeth Bennett und Mr. Darcy vorgelesen hatte. „Da steht diese heiße Braut vor Darcy wie auf einem goldenen Tablett und was macht er? Anstatt sie sich zu schnappen, rümpft er die Nase! Elizabeth ist viel zu gut für ihn!" Alany schmunzelte, wenn sie an Zachys Ausraster dachte. Ohne ihren verrückten Freund wäre Englisch bei Mr. Porcia, einem steinalten, dürren Lehrer, der aussah, als wäre er aus einem Antiquariat ausgebüchst, nicht halb so lustig.

„Gut, dass die Ständeunterschiede Verliebten nicht mehr im Weg stehen wie zu Lizzys und Mr. Bennetts Zeiten", dachte Alany sich, als sie den Roman sowie das dazugehörige Arbeitsblatt aus ihrer Schultasche nahm. Wie elend sie sich fühlen würde, wenn ihr sozialer Stand sie von Milan fernhalten würde! Jamie würde ihr nie verbieten, mit einem Jungen auszugehen, weil seine Eltern nicht genügend Geld hatten. Zugegebenermaßen- mit einem drogenabhängigen Hip Hopper aus der Bronx wäre er höchstwahrscheinlich nicht einverstanden, doch die Bronx war in New York und Alany hörte keine Hip Hop Musik. Milan, der höfliche, intelligente Sohn des Chefarztes, der seine freie Zeit in den Dienst der Gesellschaft stellte, war hingegen wohl der Traum jedes Vaters.

Nachdenklich begann Alany an ihrem Kugelschreiber zu kauen. Würde Jamie Milan akzeptieren, wenn er mit einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter in einem heruntergekommenen Apartment leben würde? Würde Jamie ihn unter diesen Umständen anders wahrnehmen, auch wenn Milan der zuverlässige Junge blieb, der er in Realität war? Eine unbequeme Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass die Antwort ‚ja' lauten würde. Verärgert schüttelte Alany den Kopf. Warum hatte sie nur solche Gedanken? Sie wünschte sich, dass sie nicht so verquer denken würde. Wieso stieß sie sich an Hindernissen, die es in Wirklichkeit nicht gab?

„Danke Lizzy, dass du es an meiner Stelle mit den Familienehren, Darcys Stolz und ignoranten Militärs aufnimmst. Ich hab schon genug Probleme, meinem Vater von Milan und mir zu erzählen, obwohl uns keine gesellschaftlichen Zwänge aufhalten", murmelte Alany. Sie stand auf Elizabeth Bennetts Seite, doch im Gegensatz zu Zachy konnte sie auch Darcys Lage verstehen. „Das Herz zugunsten der Vernunft zu verschließen, muss schwer sein. Allerdings gibt es ihm nicht das Recht, sich überlegen zu fühlen und Lizzys Familie herunterzumachen. Oh, nein!"

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Alany fest, dass ihre Gedanken bereits seit einer Stunde um „Stolz und Vorurteil" kreisten. Wollte sie ihre Hausaufgaben noch vor Silvester erledigen, kam sie besser in die Hufe. Mit brummendem Kopf las sie die erste Aufgabe auf dem Arbeitsblatt. „Schreiben Sie einen Monolog Darcys, in dem klar wird, dass seine Zuneigung zu Elizabeth allmählich über seine Bedenken bezüglich der Meinung der Oberschicht siegt."

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now