Die Sache mit dem Alkohol *2*

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„Karen kann ganz schön fies sein. Allerdings ist sie eine der wenigen, die bad ass genug sind, um es mit ständig meckernden Patienten aufzunehmen", entschuldigte sich Milan. 

„Kein Problem, der Gesichtsausdruck dieser blöden Kuh, als ich mich auf sie gestürzt habe, war Rache genug", winkte Alany ab und strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Warum befürchtete sie jedes Mal, wenn sie vor Milan den Mund aufmachte, Schwachsinn zu reden? In seiner Gegenwart schien sie sich nicht unter Kontrolle zu haben, wie bereits die Begegnung auf dem Fußballfeld gezeigt hatte. Hoffentlich hatte er damals nicht gemerkt, dass sie ihn pausenlos angestarrt hatte.

„Hier haben wir unsere Ruhe!", verkündete Milan schließlich und hielt Alany die Tür zu einem kleinen Behandlungszimmer auf. Schüchtern trat sie ein. In einer Ecke stand das weiße Skelett, das auch bei Emergency Room in keinem Behandlungszimmer fehlen durfte. Alanys Meinung nach sah es genauso untergewichtig aus wie im Fernsehen. Und warum grinste es in einer Tour, obwohl es an einer Haltestange baumelte wie eine Marionette? Anfreunden würde sich Alany mit dem Knochenmenschen wohl nie.

„Das ist George!", erwiderte Milan, der allem Anschein nach ihrem Blick gefolgt war, und stellte das Skelett beiseite. Während Alany sich auf einen Stuhl setzte, lehnte sich Milan gegen die Liege. Von dort aus sah er sie aufmerksam an.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll", erklärte Alany schüchtern und wich seinem Blick aus. Dies war eine absolute Premiere. Noch nie zuvor hatte sie sich mit einem hübschen Jungen, bei dessem Anblick die Schmetterlinge in ihrem Bauch Saltos geturnt hatten, alleine in einem Raum befunden. Schon gar nicht, um über die Alkoholvergiftung ihrer Cousine zu reden.  Seltsamerweise hatte Alany das Gefühl, mit Milan besser über Mariah reden zu können als mit ihrem Vater, obwohl Jamie und sie ein eingespieltes Team waren. 

Nun kehrte das Gefühl der Hilflosigkeit zu Alany zurück. Jenes Gefühl, das sie zum ersten Mal empfunden hatte, als Milan ihr auf dem Spielfeld in die Augen geblickt hatte. Ihr Kopf schien abermals völlig leer zu sein und sie vergaß, worüber sie mit dem hübschen Sanitäter sprechen wollte. Stattdessen verlor sie sich in seinen grauen Augen. So fühlte man sich also, wenn man Hals über Kopf verliebt war.

„Es fällt niemandem leicht, über Alkoholismus zu sprechen", sagte Milan schließlich. Alany war ihm dankbar, dass er den schwierigen Einstieg in das Gesprächsthema übernahm. 

„Triffst du als Sanitäter nicht andauernd auf Komasäufer?", wollte sie wissen.

„Klar, ich behandle oft besoffene Jugendliche", beantwortete Milan Alanys Frage vorsichtig und blickte kurz zu Georg, dem Skelett, hinüber. „Die meisten leider häufiger. Ich hab aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen, warum sie ihre Lektion nach dem ersten oder zweiten Mal immer noch nicht gelernt haben. Die Moralapostellehren aus den Aufklärungskampagnen ziehen jedenfalls nicht. Schließlich leben wir Jugendliche nicht hinter dem Mond und wissen, dass wir uns durch zu viel Alkohol die Gesundheit ruinieren können." 

„Wir Jugendliche?" Alany fragte sich, ob Milan selbst einmal über die Stränge geschlagen hatte, doch er nahm die Antwort vorweg. 

„Ich war auch schon mal komplett dicht", seufzte Milan.

„Warum?" Alany hielt seinem Blick stand, obwohl die Schmetterlinge in ihrem Bauch einer nach dem anderen explodierten. Milans Geständnis passte nicht zu dem edlen Ritter in Weiß, als der er sich in ihr Leben gedrängt hatte.

„Aus Neugier", erwiderte Milan. Für einen kurzen Augenblick schlug er die Augen nieder, als schäme er sich. „Während meines ersten Einsatzes in der Sanitätsausbildung wurden der Ausbilder und ich zu einer Geburtstagsparty gerufen. Ich bin nicht leicht zu schockieren, aber die Zustände dort hätten mich wortwörtlich fast umgehauen."

Alany hing wie gebannt an Milans Lippen. Sicherlich hatte er als Sanitäter schon Dinge erlebt, die sie sich nicht mal in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnte. Im Moment schien er nach Worten zu suchen, um seine Eindrücke von damals zu schildern.

„Überall zerbrochene Bierflaschen. Erbrochenes auf dem Teppich, herumliegende Kleidungsstücke. Ich bilde mir sogar ein, einen gelynchten Salatkopf gesehen zu haben." Milan zog eine Grimasse, entweder um seine Schilderung für Alany erträglicher zu machen oder um die schrecklichen Bilder nicht zu nah an sich heranzulassen. „Doch das Schlimmste waren die Betrunkenen. Ein oder zwei Leute besaufen sich auf jeder Party, aber zwölf auf einmal war ich zuvor noch nie begegnet. Arbeitstechnisch gesehen handelte es sich um keine große Herausforderung, denn die Behandlung von alkoholisierten Personen gehört zu den Standardaufgaben jedes Sanitäters. Allerdings..." 

Abermals zögerte Milan für einen Moment. „Ich hätte nie erwartet, solche Betrunkene anzutreffen. Eines der Mädchen war erst elf. Ihre zwölfjährige Freundin lag im viel zu großen Kleid ihrer älteren Schwester bewusstlos auf dem Boden und einige der Jungen haben keinen klaren Satz mehr hervorgebracht. Dass die Punks in der Stadt, mit ihren Piercings und ihrem Slang, sich betrinken, habe ich erwartet, aber die Kinder auf der Party? Ich hab mich gefragt, was in ihrem Leben so schiefgelaufen ist, dass sie sich auf der Geburtstagsfeier einer Zwölfjährigen volldröhnen." 

Alany sah betroffen zu Boden. Ein elfjähriges Mädchen? Als sie elf Jahre alt gewesen war, hatte sie noch mit Jamie im Garten nach Feen gesucht. „Hast du dich betrunken, weil du wissen wolltest, wie es sich anfühlt?", murmelte sie und hob fragend die Augenbrauen. 

„Ja." Milan zuckte mit den Schultern. „Ich hab meinen Vater nach den Ursachen für übermäßigen Alkoholkonsum gefragt: Kommunikationsschwierigkeiten in der Familie, überforderte Eltern, Gruppenzwang, Rebellion, der Drang sich zu beweisen, Unwissenheit und so weiter. In meinen Ohren klangen diese Begründungen logisch, doch ich hab es trotzdem nicht verstanden. Was sollte toll daran sein, einen Shot nach dem anderen in sich hineinzuschütten, um anschließend die Kontrolle über sich zu verlieren? Wie fühlt man sich, wenn man sich völlig abschießt? Gibt es dir wirklich den Kick und wie gut vergisst man im Rauschzustand seine Probleme?" 

 Milans Blick war merkwürdig leer und Alany lief ein Schauer über den Rücken. Die Tatsache, dass der junge Sanitäter sich bewusst betrunken hatte, nur um die Motivation seiner Patienten zu untersuchen, fand sie gruselig. Gruselig, aber mutig. „Und, wie fühlt es sich an?", hakte sie leise nach, wobei sie ihre Finger unbewusst in die Stuhllehnen krallte.

Milan sprang vom Behandlungstisch herunter und begann im Zimmer umherzulaufen wie ein Zirkustiger, der zu lange eingesperrt gewesen war. 

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt