Kapitel 6: Liebe ist wie Bungeejumping *1*

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Als Alany zu Hause ankam, war sie verwirrt. Nicht nur Mariahs Zustand gab ihr zu denken, sondern auch die Schmetterlinge, die in ihrem Bauch verrückt spielten, wenn Milan in der Nähe war. Hunderte Papierschnipsel kreisten in ihrem Kopf, jeder einzelne behaftet mit einem Gedanken, den sie zuvor nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gehabt hatte.

Wie konnte ihr Leben von heute auf morgen so turbulent werden? Letztes Jahr war gar nichts passiert und nun prasselte alles auf sie ein wie ein unerwarteter Hagelschauer: Der Umzug, Mariahs rebellisches Benehmen- und Milan. Hatte sich ihr Vater genauso verloren gefühlt, als er ihre Mutter kennengelernt hatte? Alany kam es vor, als würde sie ohne Sicherung eine Klippe herabspringen. Normalerweise hätte ihr das Sorgen bereitet, doch dieses Mal verspürte sie ein angenehmes Kribbeln auf ihrer Haut. Sie spürte den Wind des Risikos in ihrem Haar und Adrenalin schoss in jedes Glied ihres Körpers. Es war wie Bungeespringen: Ihr Herz raste, doch gleichzeitig genoss sie den Kick, der eine völlig neue Erfahrung versprach. Alany stürzte sich haltlos und unvorbereitet mitten ins Leben. Jedoch überwältigte das Kuddelmuddel, das sich in ihrem Kopf bildete, sie. Zum Glück konnte die Musik das ausdrücken, was sie nicht in Worte fassen konnte. Und zum Glück hörte Bosson nicht auf, gefühlvolle Lieder in ihre Spotify Playlist zu zaubern.

I do not know what it is but I think I'm falling in love
I don't know what it is and I sure don't know how
But you filled my heart with butterflies  

I'm falling in love...

Alany sang leise mit und mit jeder neuen Zeile wurde das Lächeln auf ihrem Gesicht ein wenig breiter. Inzwischen hatte Milan Mariah aus ihren Gedanken verdrängt. Langsam sank Alany in eine Art Trance. Sie sah Bilder von Milan vor ihrem inneren Auge und entschwand der Realität. Seine rotblonden Haare, sein Lächeln und natürlich seine wunderschönen grünen Augen. Sein Gesicht kam in ihren Gedanken immer näher und näher und schließlich war der imaginäre Milan ihr so nah, dass sie seinen Atem spüren konnte. Dann setzte er sein unwiderstehlichstes Lächeln auf und beugte sich langsam zu ihr herunter. Seine Lippen waren nur noch Millimeter von den ihren entfernt und Alany schloss mit klopfendem Herzen ihre Augen. Fast schon spürte sie seine Lippen auf ihren, so sanft wie ein warmes Kissen. Nur noch ein wenig näher und ...

„Alany"! Noch nie in ihrem Leben hatte sie ihren Vater so sehr gehasst. Noch nie.

Zunächst weigerte Alany sich, aus ihrem Tagtraum aufzuwachen und der Realität ins Auge zu blicken. Zu schön war das Bild vor ihrem inneren Auge gewesen, zu echt Milans warmer Atem. Zu gern würde sie noch Zeit in ihrer eigenen Welt verbringen, einer Welt, zu der ausschließlich sie Zutritt hatte und in der sie ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte. Doch die Realität war grausam. Besonders die Realität in Gestalt ihres Vaters.

„Alany! Bist du eingeschlafen?" Jamie tippte sie an, woraufhin sie grummelnd die Augen öffnete.

„Was?", brummte sie.

Jamie seufzte. „Du hast Mariah im Krankenhaus besucht!", ließ er die Katze aus dem Sack und setzte sich neben sie aufs Sofa.

Alany zuckte unwillkürlich zusammen. Wer hatte getratscht? Milan würde sie nie verraten, also musste es Karen, die Zicke am Empfang, gewesen sein. Sie hätte sich denken können, dass diese falsche Schlange es ihr heimzahlen würde.

„Und?" Alany setzte den kühlsten Blick auf, den sie zustande brachte. Warum hätte sie ihre Cousine nicht besuchen sollen? Sie war schließlich kein Baby mehr.

„Alany." Sie hasste es, wenn ihr Vater diesen „lass -uns -doch –vernünftig- darüber -reden- Ton" anschlug.

„Warum hätte ich nicht nach Mariah sehen sollen?", zischte Alany. „Ihr Erwachsenen denkt wohl, dass ihr alles bestimmen könnt. Sie ist wie eine ältere Schwester für mich und braucht mich. Mehr als euch Moralapostel."

„Wir haben dir den Besuch nicht verboten, um dich zu ärgern, sondern um dich zu schützen, Lenny." Jamie verschränkte die Arme. „Du hast keine Erfahrung mit Alkohol oder wilden Partys. Wie können wir dich ins kalte Wasser schmeißen, indem wir dich so ahnungslos auf unsere neue Partyqueen loslassen? Sie ist im Moment kein guter Einfluss für dich."

„Du behandelst mich immer noch wie ein kleines Mädchen!", stellte Alany wütend fest. „Hör auf, mich in Zuckerwatte zu packen! Irgendwann werde ich trinken und mit Jungs rummachen, auch wenn du mich am liebsten wegsperren würdest. Himmel, es ist ja nicht so, dass ich gleich so in die Vollen gehe wie du als Teenager!"

Das saß. Jamie blickte sie so verletzt an wie ein angeschossenes Reh. War sie zu weit gegangen?In Alanys Hals bildete sich ein Knoten. War ein heimlicher Krankenbesuch es wert, Jamie die Fehler seiner Jugendzeit reinzuwürgen?

Tatsächlich war Jamie nun ungewohnt still und blickte zu Boden, doch Alany fehlten die richtigen Worte um sich zu entschuldigen. „Milan kennt sich mit jugendlichen Komasäufern aus", brachte sie mühsam hervor, um die quälende Stille zu durchbrechen. 

„Du hast ihn im Krankenhaus getroffen", stellte Jamie fest und warf ihr einen Blick von der Seite zu.  „Das ist gut. Also bist du nicht auf eigene Faust in Mariahs Zimmer gestürmt."

Alany konnte sogar ein kleines Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters entdecken. Seine Stärke, sich wieder aufzuraffen und selbst dann zu lächeln, wenn er traurig war, war eine der Eigenschaften, die sie an ihm am meisten bewunderte.

„Allerdings ist Milan durch seine Tätigkeit als Sanitäter im Gegensatz zu dir an solche Situationen gewöhnt, Alany", fügte Jamie hinzu. „Und trotz seiner Erfahrung bezweifle ich, dass er einzuschätzen kann, ob du die Situation verkraftest oder nicht."

Alany verzog das Gesicht. Anscheinend hielt ihr Vater Milan ebenfalls für ein ahnungsloses Kind. Gerne hätte sie ihren neu gewonnenen Freund verteidigt und ihrem Vater klar gemacht, dass Milan ein Profi war und genauso viel leistete wie jeder ältere Sanitäter. Zudem hätte sie Jamie gerne erzählt, dass Milan sie getröstet hatte, als sie ihm ihre Sorge um Mariah anvertraut hatte, doch sie hielt ihre Zunge im Zaum. Streit würde nicht weiterhelfen.

„Trotz allem hast du natürlich recht. Ich werde auf Dauer nicht verhindern können, dass du auf betrunkenen Mitschüler triffst oder jemand auf der Klassenfahrt Drogen nimmt", fügte Jamie hinzu. Wenigstens diesen Umstand hatte er akzeptiert. „Wie geht es Mariah?", fragte er schließlich, anstatt Alany eine Standpauke über ihren geheimen Besuch zu halten.

„Ich weiß es nicht", antwortete Alany wahrheitsgemäß. Keine Ahnung, ob sie es überhaupt wissen wollte. „Mariah hat mich nicht an sich herangelassen. Ich schätze, sie hält mich genau wie du für ein Baby, zu jung, um mit mir über ihre Probleme zu reden." 

Auf einmal brach all die Aufregung und Verwirrung aus Alany heraus wie Lava aus einem Vulkan. „Was ist bloß passiert?", schluchzte sie und schlang ihr Arme um Jamie. „Wir waren wie Schwestern und haben alles miteinander geteilt! Und nun ruft Mariah mich nicht mal an, ignoriert mich in der Schule und benimmt sich, als würde sie mich hassen!" Alanys Schluchzer wurden heftiger, bis es sie schüttelte. Jamie presste ihren Kopf gegen seine Brust, wie er es getan hatte, als sie ein Baby gewesen war und endlich hörte Alany auf zu weinen.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now