Die gordischen Knoten platzen *6*

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Mariah wirkte verlegen, dann sie sah auf ihre nackten Zehen hinunter.

„Mariah, ihr hättet euch umbringen können!", rief Alany aufgebracht und packte ihre Cousine an den Schultern, sodass diese ihr wieder in die Augen sehen musste.

„Mmmh." Mariah ließ den Blick gesenkt, als sie schließlich antwortete. „Nach einer Weile war ich wie in Trance, da ich das Gesprächsthema Nummer eins war. Am meisten hat es mich jedoch gefreut, dass meine Eltern gezwungen waren, sich für mein Leben zu interessieren. Endlich war ich es, über die sie redeten und die ihre Gedanken beherrschte. Endlich haben sie zumindest versucht, sich mit mir zu unterhalten anstatt Pläne für sich selbst zu schmieden oder sich um Alex und dich zu kümmern. Versuch mal, dich in meine Lage hineinzuversetzen: Warum hätte ich mich wieder normal benehmen sollen, wo das Rebellendasein mir meinen größten Wunsch erfüllt hatte? Ich wurde wahrgenommen. Letztendlich konnte ich nicht mehr klar denken. Ich wollte feiern und mein neues Leben in vollen Zügen genießen. Also habe ich mir einen gefälschten Ausweis besorgt und in der Bar ein paar Drinks bestellt. Ich schätze, ich war schon ein wenig angeheitert, als Tiana zur Tür hereinspazierte. Als der Barmann ihr erklärte, dass der Kellner, mit dem sie sich verabreden wollte, sich den Tag frei genommen hatte, war Tiana extrem schlecht gelaunt. Da hab ich ihr einen Drink angeboten. Zuerst wollte sie ihn nicht annehmen, doch ich habe sie damit aufgezogen, was für eine Mimose sie sei. Außerdem hab ich ihr gesagt, dass sie auf dem besten Wege ist, genau die kreuzbrave Streberin zu werden, die sich ihre Mutter wünscht."

„Dass du Tiana mit dem Argument überzeugt hast, wundert mich nicht", schaltete Alany sich ein. „Sie war bis vor kurzem nicht gut auf ihre Mutter zu sprechen und das meiner Meinung nach zu Recht, da ihre Mutter sie in eine perfekte Puppe verwandeln wollte, die sie nicht ist."

Mariah biss sich auf die Oberlippe. „Mach mir kein schlechtes Gewissen, Lenny. Mir ist klar, dass ich Tiana niemals zum Trinken hätte anstiften dürfen. Aber mit jedem neuen Glas Wein haben wir unsere Probleme mehr und mehr vergessen und der Barmann war wohl zu beschäftigt, um einzugreifen. Das Nächste an das ich mich erinnere, ist, dass ich im Krankenhaus aufgewacht bin und mich miserabel gefühlt habe."

Mariah wurde zu Alanys Entsetzen von einem plötzlichen Schüttelkrampf erfasst. „Soll ich einen Arzt holen?", fragte sie besorgt, doch Mariah winkte ab.

„Nein, danke. Ich erinnere mich einfach ungern an das Magenauspumpen. Oh je, ich quassele wie ein Wasserfall! Mein Mund ist ganz trocken vom vielen Plappern." Mariah griff nach der Wasserflasche, die auf ihrem Nachttisch stand.

„Anscheinend war es höchste Zeit für unseren Auszug", merkte Alany an und strich sich eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du hast recht. Besonders Tante Caroline und du sollten mehr Zeit miteinander verbringen. Schließlich ist sie deine Mutter und nicht meine."

Mariah nickte langsam. „Sie hat mir versprochen, dass sie ab jetzt mehr mit mir unternehmen wird. Außerdem hat sie geweint, als ich sie beschuldigt habe, mich vernachlässigt zu haben. Vielleicht hätte ich sie nicht anschreien dürfen, aber ich war sauer. All das, was ich ihr seit Jahren sagen wollte, ist auf einmal aus mir herausgesprudelt. Danach hab ich geheult wie ein Schoßhund und Dad stand bedröppelt daneben, als wäre er mit der Situation überfordert."

„Gut, dass du ihnen den Grund für deine Ausraster verraten hast", entgegnete Alany nachdenklich. 

„Mom hat zugegeben, dass ich mit meinen Anschuldigungen teilweise Recht hatte. Sie hat sich sogar entschuldigt", sagte Mariah letztendlich und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Erwachsen zu werden ist Horror. Und während ich mich zum Affen gemacht habe, hast du dir den nettesten und hübschesten Jungen in ganz Nottingham gekrallt. In dieser Welt gibt es einfach keine Gerechtigkeit."

Alany senkte den Blick. SIe fühlte sich schuldig, dass Jamie und sie immer ein Herz und eine Seele gewesen waren, während Mariah bei ihren Eltern häufig aneckte. 

„Du solltest dankbar sein", fuhr Mariah fort und machte ein strenges Gesicht, als wäre sie eine Lehrerin, die Alany gerade verwarnt hatte. „Milan ist etwas Besonderes. Er hat sich in mein Zimmer geschlichen und mich vollgelabert, bis ich deinem Besuch zugestimmt habe, obwohl ich ihn übel beschimpft habe. Ich hoffe, du weißt zu schätzen, wie sehr er dich verehrt."

„Das tue ich", antwortete Alany und ihre Gedanken wanderten zu ihrem wunderbaren Freund, der unten in der Eingangshalle auf sie wartete. „Irgendwann wirst du auch so jemanden treffen, Mariah. Und du wirst keinen Minirock anziehen oder dich mit einem gefälschten Ausweis in die Clubs schleichen müssen, damit er dich toll findet."

„Glaubst du?"

„Da bin ich mir sicher".

Und damit umarmte Alany Mariah und ließ sie eine Ewigkeit lang nicht mehr los.     

                                                             *

„Ich dachte, dieser Tag würde nie kommen!" Mit Schwung beförderte Onkel Richard den Kartoffelsalat auf den gedeckten Esszimmertisch.

Alany stimmte ihm zu. Es war verrückt, die Einweihungsparty ihres Hauses im Winter, Monate nach dem eigentlichen Einzug zu halten, doch im O'Callaghan'schen Familienclan tickten die Uhren eben etwas anders.

Endlich war die aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung. Alex, der lediglich eine winzige Narbe von seiner Prügelei mit Niko und Tim davongetragen hatte, boxte Mariah freundschaftlich in die Seite. Mariah revanchierte sich, indem sie ihren Bruder zwickte und sich dann kichernd in die Küche verdrückte. Obwohl sie noch gelegentlich in ihre Rolle als Dramaqueen zurückfiel, zickige Kommentare abgab und um Anerkennung buhlte, versuchte sie nicht mehr, alles und jeden vor den Kopf zu stoßen. In der Küche stand Jamie am Herd und achtete penibel auf die Schnitzel in seiner Pfanne, da Tante Caroline ihm über die Schulter schaute und ihn mit seinen desaströsen Kochkünsten aufzog. Tiana war indessen mit ihrer Mutter, die ausnahmsweise ihre Anwaltskanzlei im Stich gelassen und ihre Tochter zur Einweihungsfeier begleitet hatte, in eine hitzige Diskussion vertieft, sah dabei jedoch so glücklich aus wie lange nicht mehr. Auch Milans Eltern, die bereits am Esszimmertisch Platz genommen hatten, scherzten und lachten mit den anderen Gästen. Nur Greg und Blair schienen sich nicht entspannen zu können, da sie mit Tommy Verstecken spielten und der Kleine sie dabei auf Trab hielt.

„Für den Moment scheint alles in Butter zu sein", sagte Milan, als er unerwartet hinter Alany auftauchte und seinen Arm um ihre Schulter legte. 

„Was für eine chaotische Zeit!", seufzte Alany, doch sie konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Es sollte stochastisch unmöglich sein, mit so vielen Katastrophen in derart kurzer Zeit konfrontiert zu werden. Ich bin heilfroh, dass das Chaos sich  mittlerweile gelichtet hat. Trotzdem bin ich glücklich, dass mein Leben und die Menschen darin nicht perfekt sind, denn ohne Höhen und Tiefen wäre es nur halb so schön, findest du nicht?"

„Das stimmt. Ich bin gespannt, wie lange die Ruhe diesmal anhalten wird", schmunzelte Milan. Als Alany ihn anblickte, bemerkte sie jenes geheimnisvolle Funkeln in seinen Augen, das sie so sehr liebte.                                                                                                 

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