Eine Schlägerei und ein Vater-Tochter-Projekt *5*

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Am Mittwoch geschah etwas, mit dem Alany so wenig gerechnet hatte wie mit einem Tornado: Jamie stiftete sie an, die Schule zu schwänzen. „Die Nike-Kampagne ist bis auf einige kleine Korrekturen fertig und ich möchte sehen, was du von ihr hältst!", ließ er beim Frühstück mit stolzgeschwellter Brust verlauten.

Alany spuckte ihre Cornflakes beinahe zurück in die Schale. „Ehrlich?" Sie erinnerte sich gut an Jamies zahlreiche Vorträge über die Bedeutung der Bildung und seine Warnungen, es sich nicht mit den Lehrern zu verscherzen, wie er es damals getan hatte.

„Ehrlich", antwortete Jamie ernst und goss sich Orangensaft ein. „Ich bin stolz auf den ersten Auftrag, der unter meiner Leitung, erfüllt wurde. Meine Kontaktperson bei Nike hat bereits durchblicken lassen, dass die Firma von meiner Arbeit äußerst angetan ist."

Alany nippte an ihrem Kakao. Deshalb hatte ihr Vater also ein so großes Geheimnis um die Kampagne gemacht! Wann immer sie ihn nach seinen Ideen gefragt hatte, hatte er sie auf später vertröstet, doch nun kannte sie den Grund: Jamie wollte ihr das gelungene Endergebnis zeigen und nicht die unausgereiften Teile, die ihren Platz im Gesamtkonzept noch nicht gefunden hatten.

„Einverstanden!" Alany fiel die Entscheidung leicht, da ihr Biologielehrer angekündigt hatte, in der nächsten Stunde ein Schwein zu sezieren. Auf den Anblick der Eingeweide und das hysterische Kreischen ihrer Mitschülerinnen verzichtete sie dankend.

Jamie wirkte aufgeregt, als er seinen BMW zum Gebäudekomplex der Werbeagentur Creative Minds steuerte, der sich in der Innenstadt befand. Seit er dort vor acht Jahren angefangen hatte, hatte sein Chef das Unternehmen von einer lokalen Agentur zu einer der größten nationalen der Branche geführt. Und ihr eigener Vater hatte seinen Beitrag dazu geleistet! Alany warf einen bewundernden Seitenblick auf Jamie, der mit einem Schlinger einer Ölpfütze auf der Straße auswich.

Am Ziel angekommen, drängte Jamie zur Eile, da er aufgrund des allmorgendlichen Berufsverkehrs spät dran war. Im Aufzug trafen sie auf Julia, Jamies Sekretärin. „Hi, Alany! Leistest du deinem Vater seelischen Beistand?" Julia strich sich hektisch eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klimperte mit ihren dick tuschierten Wimpern. Wie gewöhnlich sah sie Alanys Geschmack nach viel zu aufgedonnert aus. Julias spindeldürre Figur wurde durch ihr blaues Chiffonkleid noch betont und von dem Geld, das sie wöchentlich für Make- up ausgab, konnte man vermutlich eine ganze Schulklasse durchfüttern.

Während Julia mit Jamie über die bevorstehende Präsentation sprach, zog sie sichtlich nervös ihr Kleid zurecht und kicherte mädchenhaft. Alany vermutete, dass die Sekretärin es auf ihren Vater abgesehen hatte. Eine unpassendere Freundin konnte sie sich allerdings für ihn nicht vorstellen. Jamie schien von Julias Annäherungsversuchen nichts mitzubekommen, denn er hatte die Augen starr auf seine Notizen gerichtet. Dennoch fühlte Alany sich unwohl dabei zusehen zu müssen, wie ihr Vater von einer Frau, die höchstens sieben Jahre älter war als sie selbst, auf so billige Art und Weise angebaggert wurde. Zu Alanys Erleichterung fand die Fahrt im Aufzug schließlich ein Ende und sie konnte endlich der unbequemen Enge entfliehen.

Im Konferenzraum wurden sie bereits von Jamies Chef Paul Anderson und Jamies Arbeitskollegen erwartet, die freundlich grüßten.

„Hallo Alany, es freut mich, dass die Präsentation deines Vaters heute gegenüber der Schule Priorität hat", neckte der Chef Alany und umarmte sie herzlich. Alany kannte Paul Anderson seit Jamie in dessen Firma angefangen hatte und erinnerte sich gut daran, wie sie als Grundschulkind manchmal ihre Hausaufgaben in dessen Büro erledigt hatte. Inzwischen war Paul Anfang vierzig und um einiges ruhiger geworden, doch Alany erkannte in ihm immer noch den jungen Mann mit den netten Grübchen, der sie des Öfteren spielerisch durchs Gebäude gejagt hatte.

„Familie verpflichtet", scherzte Jamie und klopfte seinem Chef auf die Schulter. „Mal sehen, ob du mit meiner Arbeit zufrieden bist." 

„Können wir anfangen?", keifte Julia, wobei sie wie eine alte Krähe klang, und zerrte Alany unsanft zu einem freien Stuhl. „Wir liegen bereits fünf Minuten hinter dem Zeitplan und Sie haben heute noch eine Videokonferenz mit dem Vertreter des Partnerunternehmens in Südkorea!", wandte sie sich an Paul, der genervt die Augen verdrehte. Alle Anwesenden lachten, doch Julia schien nicht zu bemerken, dass ihre Meckerei der Grund für die aufkommende Heiterkeit war. 

Nachdem auch Julia Platz genommen hatte, positionierte der Chef sich neben der großen Videoleinwand im vorderen Bereich des Raumes und räusperte sich. „Unser geschätzter Kollege und Leiter der Nike-Kampagne, Jamie O'Callaghan, wird uns heute die Ergebnisse präsentieren, die sein Team und er in den letzten Wochen erarbeitet haben. Wie ich- und auch ihr, liebe Mitarbeiter- Jamie kenne, wird es den Plakaten sowie dem Videoclip für Nikes neue Sportschuhkollektion nicht an Kreativität und Funktionalität fehlen. Lange Rede, kurzer Sinn: Bühne frei für Jamie O'Callaghan!"

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