Kapitel 9: Die gordischen Knoten platzen *1*

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„Joanna." Täuschte Alany sich oder nahmen die Augen ihres Vaters den gleichen sehnsüchtigen Ausdruck an, der sich in den ihren widerspiegelte, wenn sie an Milan dachte? Jamie seufzte. „Ich hätte mir ausrechnen können, dass du früher oder später mehr über sie wissen möchtest. Wo soll ich anfangen?"

Alany zuckte mit den Schultern. Ihr Vater rückte näher an sie heran und warf einen kritischen Blick nach unten. „Was meinst du, sollten wir unser Gespräch nicht mit festem Boden unter den Füßen fortsetzen?"

Als Antwort schüttelte Alany energisch den Kopf. „Auf keinen Fall! Das Gartenhausdach ist der einzige Ort für ein so wichtiges Gespräch! Ich hab dir auf diesem Dach von meinem ersten Kuss erzählt, deshalb wäre es angebracht, die Unterhaltung über meine Mutter ebenfalls hier zu führen, findest du nicht?", fügte Alany hinzu und endlich schien Jamie zu verstehen.

„Wow, das Vater-Tochter-Projekt überfüllt seinen Zweck geradezu!", antwortete er fast ehrfürchtig und blickte langsam am Gartenhaus herunter. „Lass uns von jetzt an alle Familiengespräche hier oben führen! Wenn wir zusammenrücken, ist für Richard, Caroline, Mariah und Alex auch noch Platz. Du möchtest also mehr über deine Mutter erfahren. Tut mir leid, ich muss mich kurz sammeln." 

Jamie atmete ein paar Mal tief durch und schloss kurz die Augen, bevor er zu sprechen begann.  „Joanna Angel." Als er dieses Mal den Namen ihrer Mutter aussprach, bebte seine Stimme leicht und Alany konnte glühende Funken in seinen Augen auf- und abtanzen sehen. Anschließend begann Jamie zu erzählen. „Ich war von dem Augenblick an unsterblich in sie verliebt, in dem ich sie zum ersten Mal erblickte. Es war früher Morgen und es hatte heftig geregnet, weshalb die meisten meiner Mitschüler völlig durchnässt in der Schule ankamen. Einen Schirm mitzunehmen galt damals als uncool und der Wetterbericht hatte irrtümlicherweise schönes Wetter vorhergesagt. Alle Mädchen in meiner Französischklasse jammerten über ihre ruinierten Frisuren und das zerlaufene Make-up. Alle außer Joanna. Sie war neu in Nottingham und hätte auch ohne das ‚Beauty- Desaster' mit dem Regen allen Grund gehabt, unsicher zu sein. Stattdessen hat sie es geschafft, in ihrer allerersten Stunde an der neuen Schule einen bombastischen Auftritt hinzulegen."

Die Erinnerung an seine erste Begegnung mit Joanna schien Jamie zu überwältigen, denn er legte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach. „Jedem anderen Neuling hätte es den Rest gegeben, so zerstrubbelt vor die Klasse zu treten, doch Joanna war anders. Als sie die Klasse betrat, strahlte sie und warf ihr klitschnasses Haar neckisch zurück. Sie musste sich keine Mühe geben, ihren neuen Mitschülern zu gefallen, weil wir vor ihr von selbst auf die Knie fielen. Versteh mich nicht falsch, als Schulhofcasanova hatte ich bereits das ein oder andere Sahneschnittchen aufgerissen. Joanna war wunderschön, doch es gab Mädchen, die mit ihr in puncto Aussehen mithalten konnten. Allerdings hatte sie etwas Geheimnisvolles und Rebellisches an sich, das mich wie magisch anzog. Aus diesem Grund hat mich die Tatsache, dass sie mich erstmal zappeln ließ, nur noch mehr angespornt."

Alany, die bis jetzt aufmerksam zugehört hatte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich dachte, du wärst der alleinige König der Herzensbrecher gewesen. Lustig, dass meine Mutter den Spieß umgedreht hat! Ihr beiden müsst gut zusammengepasst haben."

Jamie lächelte gequält. „Du hast Recht, ich hatte in Joanna meine Meisterin gefunden. Obwohl es mir sehr missfallen hat, dass sie mich in der Hand hatte und nicht umgekehrt, war ich machtlos. Es war neu für mich, mich für ein Mädchen ins Zeug legen zu müssen. Wie du auf den Photos gesehen hast, war ich ein hübsches Kerlchen und die Mädels haben mir aus der Hand gefressen. Ich hätte jede haben können, doch ich wollte ausgerechnet Joannas Herz gewinnen. Vielleicht klingt es gemein und ich schäme mich dafür, doch die Persönlichkeiten meiner Exfreundinnen hatten mich nicht wirklich interessiert. Ehrlich gesagt hat mich jede einzelne von ihnen nach kurzer Zeit gelangweilt und ich habe mich sofort nach einer Neuen umgesehen, nachdem ich sie abserviert hatte. Joanna dagegen hat mich herausgefordert und war keine einfache ‚Beute'. Sie wusste genau, was sie wollte und hatte Feuer im Blut. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viel geweint, gelacht und gestritten wie mit ihr."

„Weinst du, Dad?" Vorsichtig robbte Alany so nahe an ihren Vater heran, dass sie ihn umarmen konnte. Das Wort ‚Weinen' war wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrhunderts, denn die Tränen schossen aus Jamies Augen hervor wie Kanonenkugeln.

„Ich bin okay. Gib mir eine Minute, dann dürfte ich mich wieder unter Kontrolle haben", antwortete Jamie mit zitternder Stimme und löste sich sanft aus ihrer Umarmung. „Es ist nur... Ich habe sie so sehr geliebt." Die letzten Worte hauchte Jamie, sodass Alany Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Plötzlich stieg Betroffenheit in ihr auf. Aus der Art und Weise, wie ihr Vater über ihre Mutter sprach, konnte Alany herauslesen, dass Jamie Joanna tatsächlich bedingungslos geliebt hatte. Nicht geliebt wie gewöhnliche Teenagerpärchen einander liebten oder zu lieben glaubten, sondern auf die pure, Großleinwand-Liebesfilm-Art. So wie Rose und Jack aus Titanic oder Lizzy und Mr. Darcy aus Stolz und Vorurteil, wenn es sie in Realität gegeben hätte. Alany fragte sich, ob sie Milan eines Tages auf die gleiche Art lieben würde, auf die ihr Vater Joanna Angel geliebt hatte. Geliebt entgegen aller Gegensätze und Schwierigkeiten, allem Streits und allem Schmerzes, den sie ihm am Ende zugefügt haben musste.

„Warum hat Joanna dich nach meiner Geburt verlassen?", fragte Alany nach einer Weile zögerlich. „Anscheinend habt ihr euch prima verstanden. Und sie wollte doch meine Mutter sein, wenn sie mich behalten hat?" Anstatt abzutreiben, ergänzte Alany gedanklich und musste heftig schlucken.

Jamie schien ihr Unbehagen zu bemerken, denn er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Niemals hätten wir unser Kind aufgegeben", beantwortete er ihre ungestellte Frage. „Wir haben mit dem Feuer gespielt und die Rechnung dafür bekommen. Warum hätte unser ungeborenes Baby für etwas büßen sollen, für das allein Joanna und ich verantwortlich waren? Wir waren jung und haben uns nicht um die möglichen Folgen unseres Handelns geschert, aber wir beide, sowohl deine Mutter als auch ich, haben die Entscheidung, dich zu behalten, nie in Frage gestellt."

„Aber wenn Joanna Engel mich nicht hasst, warum ist sie dann abgehauen?", hakte Alany nach. Obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass die Antwort schmerzen würde, drängte sie darauf, sie zu erfahren. Die ewige Grübelei über das Verschwinden ihrer Mutter kurz nach ihrer Geburt sollte endlich ein Ende finden.

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