Vollcrash ins Leben *6*

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Wie durch ein Wunder schaffte Alany es, trotz des peinlichen Vorfalls sowohl Mathematik als auch angewandte Biologie (Frösche sezieren- uäh) zu überleben und halbwegs munter in „Kulturen der Welt", ihrem Wahlpflichtfach, anzukommen. Diese umständliche Bezeichnung hatte sich Schulleiterin Heather Clarington persönlich ausgedacht, um das Fach „intellektueller wirken zu lassen." Kurz gesagt war KdW das unterhaltsamste aller Schulfächer, denn so viel Kreativität und Ausgelassenheit wie dort ließ man an der katholischen St. Mary's School in keiner anderen Unterrichtsstunde durchgehen. 

Alanys Laune besserte sich augenblicklich, als sie Mrs. Schrumpernagel, die KdW Lehrerin, ans Pult gelehnt erblickte. Unterricht bei Mrs. Schrumpernagel, die eindeutig deutsche Vorfahren haben musste, machte Spaß, da sie ein schräger Vogel war. Zur letzten Stunde vor den Ferien war sie in einem Rokokokleid erschienen und hatte aufgrund der vielen Rüschen einige hämische Kommentare einstecken müssen. Allerdings hatte das Kleid ihrer stämmigen Figur geschmeichelt, da es ihre Fettpolster kaschiert hatte, wie Jennifer Miller, ein Mädchen für das Make-up und Styling mit Weltfrieden und der Rettung des Regenwaldes gleichzusetzen waren, überall herumerzählt hatte. Jennifer war in Sachen Klatsch die zuverlässigste Quelle, da sich bei ihr alle möglichen Informationen und Anfragen sammelten. Auf diese Weise wurde sie zu einer Art lebendigen Tauschbörse für Neuigkeiten und Gerüchte.

Dieses Mal lagen zu Alanys Neugier Kokosnussschalen und einige interessant aussehende andere Dinge auf dem Lehrertisch. Leider sah Mrs. Schrumpernagel selbst so gewöhnlich aus wie lange nicht mehr. 

 „Morgen, Mrs. Schrumpernagel", nuschelte Stephen Coal, als er hinter Alany das Klassenzimmer betrat. „Stellen Sie sich vor, mein Großvater hat das Bild von dem afrikanischen Dorffest, das wir in der Stunde vor den Ferien gemalt haben, für den Karneval in Rio gehalten!" 

„Vielleicht sieht dein Großvater nicht mehr so gut!", löste die Lehrerin sich selbst in der Hitliste der unpassendsten Antworten ab, während Zachy Lord gerade noch rechtzeitig durch die Tür schlüpfte, um ihre Antwort zu hören. 

„Oder es liegt an deinem Geschmiere, freundlicher ausgedrückt: Deiner unvollkommenen Skizziertechnik!", flüsterte er Stephen mit bissigem Unterton zu, bevor er sich auf den Weg zu seinem Platz in der letzten Reihe machte. „Hi Alany!", begrüßte er sie mit lässig klingender Stimme und blieb an ihrem Tisch stehen, um zu plaudern. Manchmal gab Zachy den Vollidioten, um seinen Ruf als Unruhestifter zu bewahren, doch wenn man mit ihm allein war, konnte er ganz nett sein. 

Alany und Zachy waren auf dem besten Wege, sich anzufreunden, auch wenn es einige Startschwierigkeiten gegeben hatte. Im Gegensatz zu manch vorschnellen Zungen, die sie bereits als Turteltäubchen sahen, war Alany sich jedoch sicher, dass Zachy und sie in Zukunft lediglich Freunde sein würden. 

 Nachdem der letzte Schüler eingetrudelt war, schloss Mrs. Schrumpernagel mit Schwung die Tür und stellte sich mit stolz geschwellter Brust neben den Tisch, wie um ihre neueste Zusammenstellung anzupreisen. „Ich möchte nicht wissen, was sie mit dem Krempel vorhat!", grummelte Anne Finley aus der zweiten Reihe miesepetrig, bevor sie sich so wie jede KDW-Stunde daran machte, unter ihrem Tisch heimlich in einem dicken Roman zu schmökern.

Alany mochte Anne, doch deren permanent schlechte Laune hielt sie auf Abstand. Bei den meisten ihrer Mitschüler war Anne, das Mädchen mit den pinken Ohrringen, als langweiliger Rotschopf verschrien, weshalb sie nach und nach zur Außenseiterin geworden war. Alany hatte Mitleid mit ihr, doch Anne schien ihre Außenseiterrolle nicht im Geringsten zu stören.

Allerdings konnte Alany nicht verstehen, warum Anne sich in Mrs. Schrumpernagels lustigem Unterricht anderweitig beschäftigte. KDW war Alanys absolutes Lieblingsfach, zum einen aufgrund der schrillen Persönlichkeit ihrer Lehrerin, zum anderen da die meisten Schüler der neunten Jahrgangsstufe, mit denen sie öfter zu tun hatte, ebenfalls diese Klasse besuchten.

An diesem Tag hatte Mrs. Schrumpernagel Kokosnussschalen, einige exotisch aussehende Musikinstrumente, die wahrscheinlich aus Früchten hergestellt worden waren, und – was die Klasse sehr erheiterte- bunte Blumenketten aus Plastik dabei. „Meine Lieben, heute werdet ihr während unserer wundervollen 45-Minuten-Stunde nicht auf euren Hintern hocken oder Däumchen drehen oder lesen. Anne! Entweder du legst dieses unterrichtsfremde Utensil schneller weg, als ich "Bazinga" sagen kann, oder das Buch fliegt in die Ecke! Wo war ich stehengeblieben? Ah, ich hab's: Ladies and Gentlemen, ich präsentiere den Kokusnusstanz! Auf geht's, schwingen wir das Tanzbein!" 

 „Was für ein Schwachsinn!", meldete sich Zachy zu Wort und schnitt eine Grimasse.

Alany konnte sich denken, was in Zachy vorging: Bekam jemand mit, wozu ein Schüler in einer Klasse, die er, Zachary Aurelius Lord, besuchte, genötigt wurde, wäre er seinen Ruf als coolster Neuntklässler der Schule los. Noch peinlicher wäre es für ihn wahrscheinlich nur, wenn seine Klassenkameraden von seinem zweiten Vornamen erführen. Der war ihm ausschließlich gegenüber Alany herausgerutscht und sie hatte bisher einfach keinen Grund gehabt, Zachy bloßzustellen.                                                                                                                                

„Ah, ah, ah, was höre ich da? Das vernehmen meine Engelsöhrlein aber gar nicht gern!", trällerte Mrs. Schrumpernagel und tänzelte in die letzte Reihe zu Zachy, der langsam in seinem Stuhl versank. „Pech gehabt, mein süßer Junge, denn ich habe soeben meinen ersten Freiwilligen gefunden!" Energisch packte die Lehrerin Zachy am Arm und zog ihn unter dem Gelächter seiner Klassenkameraden nach vorne an die Tafel.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now