Auf dem Gartenhausdach *5*

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An den folgenden Ferientagen arbeitete Alany morgens mit Jamie am Gartenhaus, das inzwischen so gut wie fertig gestellt war, und nachmittags traf sie sich mit Milan oder besuchte Tiana. Ihre beste Freundin war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden und befand sich auf dem Weg der Besserung. Allerdings hatte Tiana von ihrer Mutter eine Ausgangssperre auferlegt bekommen, weshalb sie sich langweilte.

„Ich komme mir vor wie in einem Märchen", jammerte Tiana, als Alany am Ende der Ferienwoche zur Tür hereinschneite, nachdem sie Jamie geholfen hatte, die letzten Holzbalken des Dachfundaments anzubringen. Nun fehlten zur Vollendung des Vater-Tochter-Projekts nur noch die Dachpappe, der Parkettfußboden und der Schutzlack.

„Wie in einem Märchen?", fragte Alany erstaunt. 

„Genau." Tiana, die in ihren Jogginganzug gekleidet im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, zerdrückte ein Schokoladenei in ihrer Hand. „Mit dem Unterschied, dass in meinem Fall der Turm eine Luxusbude ist und meine überambitionierte Mutter den feuerspeienden Drachen ersetzt."

Alany schmunzelte. Es war schön, die alte Tiana mit ihrem herrlich bissigen Sarkasmus zurückzuhaben. „Läuft es mit deiner Mutter nach dem Schock mit dem Krankenhausaufenthalt nicht wieder besser?", hakte sie interessiert nach.

Nun schmunzelte auch Tiana. „Um die Wahrheit zu sagen, kümmert sie sich jetzt mehr um mich. Natürlich meckert sie noch an mir herum und schleicht als der Drache aus dem Märchen um mein Turmzimmer herum, doch sie hat angefangen, mir zuzuhören. Sie lässt mich sogar ausreden und hält keine Vorträge über die unnötigen Problematiken Heranwachsender mehr."

„Fantastisch! Ich freu mich für dich, Ti!", rief Alany, obwohl sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass Pauline Manzotti, die knallharte Anwältin, sich auf einmal für die Probleme ihrer Teenagertochter interessierte. 

„Ich glaube, der Vater deines süßen Sanitäters hat ihr seine Meinung gesagt, nachdem sie mich auf seiner Station zur Schnecke gemacht hat, bevor wir das Krankenhaus verlassen haben. Du kannst Milan sagen, dass sein Vater im Gegensatz zu den anderen grauhaarigen Herren dort das Zähmen hysterischer Eltern beherrscht. Apropros, du hast mir noch gar nichts über deine Dates mit deinem heißen Boyfriend erzählt!" Tianas schlechte Laune schien wie weggeblasen und sie löste ihre Beine aus dem Schneidersitz. Dann legte sie sich bäuchlings aufs Bett, wackelte mit den Beinen und sah Alany dabei neugierig an.

Alany musste laut loslachen. „Ich bin froh, dass du wieder die Alte bist und die Sache mit dem Alkohol dich nicht aus der Bahn geworfen hat. Ehrlich gesagt hatte ich Angst, dich an die coolen Kids an der Schule zu verlieren."

„Deshalb musst du dir keine Gedanken machen, denn sich fast ins Koma zu saufen ist nicht halb so lustig wie immer behauptet wird. Besonders auf den Kater mit stechendem Kopfschmerz und meine Begegnung mit der Magenauspumpmaschine hätte ich gern verzichtet", antwortete Tiana und rollte mit den Augen. „Aber genug davon. Ich hab meine Lektion gelernt und hoffe, dass Mariah dasselbe tut. Jetzt erzähl mir endlich von Milan und dir!" Und damit sprang sie auf und zog Alany vom Sessel aufs Bett.

Kaum saßen die beiden Freundinnen sich gegenüber, fingen sie auch schon zu tuscheln und zu kichern an. „Tiana und ich sind wieder die Kinder von früher, die sich ewige Freundschaft geschworen hatten", schoss es Alany durch den Kopf und sie spürte, wie sie von einem starken Glücksgefühl ergriffen wurde.

                                                                   *

Ein neuer Tag, erneute Schufterei am Gartenhaus. Wenn sie nur die Zeit zurück spulen konnte! Am Vortag hatten Jamie und Greg sich nämlich alleine um den Parkettboden gekümmert, sodass Alany mit Milan, der glücklicherweise keinen Bereitschaftsdienst mehr leisten musste, in Ruhe picknicken konnte. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, als sie an diesen Tag mit ihrem Freund dachte. Zwar hatten sie während ihres Rendezvous nichts Außergewöhnliches unternommen, doch es waren die einfachen Dinge, die es für Alany zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht hatten: Die Vertrautheit, in der sie mit Milan das leckere Essen genossen hatte; die wärmenden Sonnenstrahlen; das Kribbeln auf ihrer Haut, als er sanft ihre Wange berührt hatte und das Chaos in ihrem Kopf, als er ihr „Es gibt niemanden auf der Welt, mit dem ich in diesem Augenblick tauschen würde" ins Ohr geflüstert hatte.

Alany schwelgte zufrieden in Erinnerungen an den Tag mit Milan, während sie ihrem Vater half, die Dachpappe zu befestigen. Die Zeit verging wie im Flug und Alanys Gedanken wanderten auf und ab, jedes noch so kleinste Detail aufspürend, bis sie unvermittelt auf das einzig unerfreuliche stießen. „Ich frage mich, wie das erste Date meiner Eltern ausgesehen hat", war es Alany beim Picknicken herausgerutscht. Im Nachhinein hätte sie sich dafür am liebsten geohrfeigt, denn jeder Gedanke an ihre Mutter schmerzte. 

Feinfühlig wie Milan war, hatte er nachgefragt. „Denkst du oft an deine Mutter?" Alany hatte geantwortet, dass sie zwar nicht dauernd, aber öfter als ihr lieb war, an Joanna Angel dachte. „Jamie und du sollten über sie reden. Du hast das Recht, stinksauer auf sie zu sein, aber du wirst sie nicht vergessen können, denn sie ist genauso ein Teil von dir wie dein Vater."

Alany sträubte sich dagegen, es zuzugeben, doch besonders Milans letzter Kommentar passte wie die Faust aufs Auge. So sehr sie sich bemühte, ihre Mutter zu aus ihrem Leben zu verbannen und so oft sie auch betonte, dass sie keine Person namens Joanna Angel brauchte, um glücklich zu sein-sie würde ihre Mutter nie vergessen. Vielleicht hatte Milan Recht und es täte Jamie und ihr gut über die Person zu sprechen, die sie auf geheimnisvolle Weise für immer durch ein unsichtbares Band verbinden würde, anstatt zu versuchen, sie zu verdrängen.

Aus diesem Grund entschloss sich Alany nun, ihren Vater nach ihrer Mutter zu fragen. „Dad?" Alany drehte sich vorsichtig in Hockstellung auf dem Dach um, sodass sie ihren Vater ansehen konnte.

„Ja, Lenny?" In Jamies Augen spiegelten sich sowohl Neugierde als auch Unbehaglichkeit wider. Etwas in ihrer Stimme musste ihre Absichten verraten haben. „Ich möchte wissen, wer Joanna Angel wirklich war."

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Donde viven las historias. Descúbrelo ahora