Die gordischen Knoten platzen *5*

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Mariah winkte ab. „Reg dich ab. Ich sagte war wütend, aber bitte tu nicht so, als wärst du vollkommen überrascht."

Alany rückte ein Stück von Mariah weg. „Ich hab keine Ahnung, wovon du redest." Gegen ihren Willen begannen Tränen ihre Wangen herunter zu fließen. Mariah versuchte sie zu umarmen, doch Alany stieß sie weg. „Lass mich in Ruhe und sag mir sofort, warum du so sauer auf mich warst!" 

„Es ist kompliziert und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll." Mariah schien einen Augenblick lang nach den richtigen Worten zu suchen, dann platzte es aus ihr heraus.

„All die Jahre warst du der Liebling der Familie. Das ist so unfair!"

„Liebling?" Alany sah perplex drein.

Mariah schnaubte. „Oh mein Gott, du bist wirklich die Unschuld vom Lande, Alany. Anscheinend ist dir nie aufgefallen, dass immer du im Mittelpunkt standest. An meinem zehnten Geburtstag hatten alle nur Augen für dich, weil du mit deinen Goldlöckchen und deinem neuen Haarband so süß aussahst. Und erinnerst du dich an die Sommerferien, in denen ich die Grippe hatte und zwei Wochen lang im Bett bleiben musste? Damals hat meine eigene Mutter dich in der Gegend herum kutschiert anstatt mir Gesellschaft zu leisten, weil Onkel Jamie bis zum Umfallen in der neuen Firma geschuftet hat. Selbst in der Schule kann ich es niemandem recht machen: Mr. Belafonte hat mir beim Elternabend erzählt, dass Alany Klassenbeste in Geographie ist. Wusstet ihr, dass Alany einen Einserdurchschnitt hat? Blablabla. Du bist die Musterschülerin und ich war für alle unsichtbar. Es geht immer nur um dich- und nein", Mariah bedeutete Alany, die im Begriff war, zu protestieren, mit einer harschen Handbewegung zu schweigen, „widersprich mir nicht. Denk nach, Lenny. Es stimmt!"

Mariahs Augen funkelten böse und Alany glaubte die ganze Wut und Enttäuschung, die sich jahrelang angestaut haben musste, entweichen zu sehen.  Rasch versuchte sie sich an die vergangenen Jahre zu erinnern. Ihr Onkel, ihre Tante und ihr Vater hatten sich alle sehr um sie gekümmert, doch sie hatte nie das Gefühl gehabt, bevorzugt zu werden. Offensichtlich im Gegensatz zu Mariah, denn die fuhr- nun mit schriller Stimme - mit ihrer Klage fort.

„Hast du eine Ahnung, was für ein Gefühl es ist, alles falsch zu machen? Hab ich jemals Anerkennung dafür bekommen, mich wenigstens bemüht zu haben? Nein, weil ich mein ganzes Leben lang mit dir verglichen wurde und man gegen dich nur verlieren kann, Lenny. Die arme Alany hat keine Mutter. Und ihr Vater ist überfordert, kümmern wir uns also um sie und ignorieren unsere eigene Tochter! Meine Eltern haben sich so gründlich um dich gekümmert, dass sie für mich kaum Zeit hatten. Alex hatte es besser, weil er der Jüngste von uns dreien ist und als das Baby verhätschelt wurde, aber ich wurde außen vorgelassen. Mariah, du bist die Älteste und hast Verantwortung! Deine kleinen Geschwister brauchen mehr Unterstützung als du, das verstehst du sicher. Ich musste auf dich aufpassen, wenn unsere Eltern ausgegangen sind und dir bei deinen Hausaufgaben helfen, weil Jamie zu viel gearbeitet hat und wie hat man es mir gedankt? Mit Kritik an meinen Schulnoten, an meiner Kleidung und an meiner Persönlichkeit. Alany, das nette, kluge Mädchen von nebenan und Mariah, die faule Cousine."

Mariah legte eine kurze Pause ein, um Luft zu holen. Die hatte sie auch dringend nötig, da sie inzwischen wie eine Dampflokomotive schnaufte.

Alany ergriff die Gelegenheit, um etwas zu sagen. „Es tut mir leid, wenn du meinetwegen zu kurz gekommen sein solltest! Ich wollte nicht..."

„Schon gut. Es ist schließlich nicht deine Schuld", unterbrach Mariah, die sich anscheinend wieder beruhigt hatte, sie. „Es ist nur... Es war schwer, all die Jahre ein Vorbild für dich und Alex sein zu müssen. Versteh mich nicht falsch, es war toll, Onkel Jamie und dich bei uns wohnen zu haben, aber ich habe euch des Öfteren zum Teufel gewünscht. Da Jamie sein Studium abschließen und danach einen Job finden musste, hat Mama dich mit aufgezogen. Ich war neidisch, weil sie dir so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, obwohl sie nicht deine biologische Mutter ist. Immer auf dich Rücksicht nehmen zu müssen, war beschissen, Lenny."

Alany nickte niedergeschlagen. „Ich kann dich verstehen", sagte sie kleinlaut. „Warum hast du nie mit Tante Caroline und Onkel Richard oder mir darüber geredet?"

Mariah zuckte mit den Schultern. „Du warst vielleicht zu klein um es mitzubekommen, aber die Atmosphäre war oft angespannt. Jamie war hauptsächlich mit seinem Studium beschäftigt und bevor er anfing zu arbeiten, musste Dad ihm finanziell unter die Arme greifen. Unsere Großeltern haben kein großes Erbe hinterlassen und Dad hat am Anfang seiner Steuerberaterkarriere nicht viel verdient, während Mom ihren Job für uns Kinder vorübergehend auf Eis gelegt hatte. Sie redet nicht gerne darüber, aber sich um drei Kleinkinder zu kümmern, hat sie überfordert. Jedenfalls hatte ich als Älteste das Gefühl, die Familie stützen zu müssen und ich wollte unseren Eltern nicht zur Last fallen, indem ich mich über mangelnde Aufmerksamkeit beschwere." Mariah seufzte. „Uff, soviel hab ich nicht mal den Psychotanten erzählt."

„Ich hatte keine Ahnung, unter wie viel Druck du standest", entgegnete Alany. „Ich schätze, ich hab nie realisiert, wie viel du für mich getan hast. Wie kann ich das je wieder gut machen?" Sie rückte näher an Mariah heran, bis sie ihre Cousine umarmen konnte. 

Mariah drückte sie fest an sich. „Mach dir keinen Kopf, Lenny. Zugegebenermaßen war es manchmal recht lustig, auf meine Babycousine aufzupassen und dich bei unseren Kissenschlachten am Wochenende das Fürchten zu lehren."

Alany lächelte Mariah dankbar an. „Hast du dich deswegen seit unserem Auszug so seltsam verhalten?", wollte sie neugierig wissen.

Mariah nickte. „Für mich ist mit eurem Auszug ein Traum in Erfüllung gegangen. Ich liebe Onkel Jamie und dich, doch ich habe mich sehr gefreut, letztendlich meine Eltern und sogar Alex mit niemand anderem mehr teilen zu müssen. Da Alany nicht mehr hier wohnt, werden Mom und Dad mehr Zeit für mich haben, dachte ich mir. Denkste. Anstatt mir zu zu hören, als ich ihr erzählen wollte, dass Benny Spencer mein Herz gebrochen hat, hat Mom Fortbildungen besucht, weil sie nun wieder als Apothekerin arbeiten möchte. Dad dagegen hat Alex zu all seinen Schwimmwettkämpfen begleitet, sich aber geweigert, mit mir zu Rockkonzerten zu gehen."

„Das tut mir leid", murmelte Alany. Mariah tat ihr schrecklich leid.

Mariah angelte sich ihr Kissen und malte mit ihren Fingern Kreise darauf. „Ich schätze, ich bin in ihren Augen alt genug, um alleine klar zu kommen. Mit siebzehn bin ich nur ein Jahr von der Volljährigkeit und vom Schulabschluss entfernt. Schlimm, wie die Zeit vergeht. Mom und Dad haben nicht kapiert, dass sie mich als Kind oft ignoriert haben und ich die verpasste Aufmerksamkeit dafür gerne jetzt hätte."

„Also war Rebellion dein letzter Ausweg", folgerte Alany. Sie war heilfroh, dass es einen Grund für Mariahs Eskapaden gab und ihre Cousine nicht aus einer Laune heraus durchgedreht war.

„Zunächst", Mariah warf das Kissen zu Boden und sprang vom Bett auf, „wollte ich lediglich provozieren. Ich weiß, wie wichtig meinen Eltern die Schule ist und was ist effektiver, um eine katholische Lernanstalt aufzumischen, als sich provokant anzuziehen?" Schwungvoll warf sie ihr Haar zurück und poste wie ein Möchtegern- Filmstar. „Mein Plan ist perfekt aufgegangen: Ich habe die Schulleiterin auf die Palme getrieben, sie hat sich bei meinen Eltern beschwert und ich war plötzlich als das bad girl der ganzen Schule verschrien. Zunächst war es nur eine Rolle, aber nach kurzer Zeit hat mir mein neues Ich gefallen. Endlich bekam ich die Aufmerksamkeit, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Welches Mädchen wird nicht gerne von den beliebtesten Jungs der Schule angeflirtet?"

„Die Typen kamen mir eher gruselig als angesagt vor", murmelte Alany.

Mariah seufzte genervt. „Ich gebe zu, dass sie nicht in der Liga deines Sanitäters spielen. Zufrieden? Um es kurz zu machen: Letztendlich fand ich meinen neuen Ruf richtig cool, weil ich von heute auf morgen in der Schule bekannt war wie ein bunter Hund. Nicht jeder schafft es in so kurzer Zeit vom Niemand zum Star der Schule."

„Und das Komasaufen mit Tiana?", hakte Alany nach. Sie interessierte sich brennend dafür, wie zum Teufel Mariah Tiana zu solch einer Dummheit angestiftet hatte.

Sparks/ Amby Awards Shortlist 2023Where stories live. Discover now