Kapitel 8: Auf dem Gartenhausdach *1*

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Ein Krachen ertönte, als Jamie den Hammer fallen ließ und beinahe vom Gartenhausdach fiel. „Bitte?", fragte er und sah Alany mit großen Augen an, nachdem er sich wieder gefangen und eine sichere Position auf dem Dachgerüst gefunden hatte. „Hast du mir soeben erzählt, dass du Milan geküsst hast oder hab ich mich verhört?"

Alany hatte keine Ahnung, wie sie seine Reaktion einschätzen sollte. „Ich habe Milan geküsst", wiederholte sie bestimmt und hob ihr Kinn, um ihrem Vater zu zeigen, dass sie hinter ihrer Entscheidung stand. Sie war kein kleines Mädchen mehr und Jamie konnte ihr nicht verbieten, erwachsen zu werden. Trotzdem zwickte es in Alanys Magengrube. Was wäre, wenn Jamie ihre Beziehung zu Milan nicht guthieß? Würde sie jemals gegen den Willen ihres Vaters mit einem Jungen glücklich werden können?

„Geküsst." Jamie starrte mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er vom Blitz getroffen worden, in die Leere.

Alany wartete darauf, dass ihr Vater den Mund öffnete, doch Jamie schwieg. Die Stille war schlimmer als angeschrien zu werden oder peinliche Glückwünsche entgegen nehmen zu müssen. Hundertmal schlimmer. Über den Baumkronen des Waldes flog eine Schwalbenformation und Alany wünschte sich, ebenfalls Flügel zu haben, um dieser unangenehmen Situation entfliehen zu können.

„Weshalb überrascht dich das so?", ging sie nach gründlichem Überlegen in die Offensive. „Du warst doch derjenige, der andauernd Scherze über Milan und mich gemacht hat. Die ganze Blödelei mit 'dein süßer Sanitäter' und so weiter. Du kannst unmöglich übersehen haben, dass ich ihn mag." Alany strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Bitte, sag was. Irgendwas", flehte sie ihren Vater innerlich an und fixierte ihn mit ihren Augen.

„Wow." Mehr war aus Jamie im Moment wohl nicht herauszubekommen.

Letztendlich entschied Alany sich dazu, weiterzuarbeiten, um sich nicht gänzlich hilflos zu fühlen. Jamie folgte ihrem Beispiel. 

Alany nagelte gerade ihr zweites Brett fest, als ihr Vater die richtigen Worte gefunden zu haben schien. „Ich weiß, dass du Milan sehr magst und ich gebe zu, dass ich dich mit ihm aufgezogen habe, aber dass es so schnell geht... Du hattest nie viel mit Jungs zu tun und bist schüchtern. Wahrscheinlich dachte ich, es würde ein Weilchen dauern, bevor es zwischen euch ernst wird." Das Wort 'ernst' sprach er aus, als zöge er einen Kaugummi in die Länge.

Himmel! Alany hätte nie erwartet, dass ihr Vater, der Frauenheld schlechthin, der in seiner Jugendzeit mit einem Mädchen nach dem anderen geknutscht hatte, so ein Theater machen würde, nur weil sie Milan geküsst hatte. Immerhin war sie fünfzehn und kannte ihn seit über einem Monat.

Offenbar war heute einer ihrer aggressiven Tage, denn sie spürte, wie sich ihre Zunge löste und sie auf Kollisionskurs ging. „Du hättest also erwartet, dass ich monatelang nachdenke anstatt meinen Gefühlen zu folgen?", fragte sie wütend. Eine leise Stimme in ihrem Kopf antwortete ja.

Jamie sah Alany nachdenklich an. „Es passt nicht zu dir. Ich habe fest angenommen, dass du zuerst zu mir kommst und mit mir über Milan sprichst, bevor du ihm näher kommst. Vielleicht hätte ich mich mehr um dich kümmern müssen. Du musst sauer auf einen Vater sein, der wie ein Besessener gearbeitet hat, anstatt für dich da zu sein."

Aha, Jamie machte sich also Vorwürfe. „Sei nicht lächerlich, Paps", beeilte Alany sich ihm zu versichern und schenkte ihm ein Lächeln. „Es hat nichts mit dir zu tun. Ich kann dir einfach nicht erzählen, in wen ich verliebt bin, weil du keine Freundin bist, mit der ich tratschen kann. Und das ist auch gut so."

Jamie sah in die Ferne und räusperte sich. „Ich schätze, ich werde akzeptieren müssen, dass du nicht ewig mein kleines Mädchen bleiben wirst", sagte er mit leicht zitternder Stimme.

„Das wäre das Beste", antwortete Alany und warf einen weiteren Blick zum See hinüber. Auch wenn es für mich genauso schwer wird, fügte sie in Gedanken hinzu. Es würde ihr schwer fallen, nicht mehr das kleine Mädchen zu sein, das ihren Dad immer um Rat fragen konnte.

Ein paar Mal räusperte Jamie sich, wie um das Gespräch fortzuführen, überlegte es sich kurz darauf jedoch anders und schwieg. Anscheinend brütete er verbissen vor sich hin, denn er arbeitete so unkonzentriert, dass er sich des Öfteren mit dem Hammer auf die Finger haute. Alany hingegen nagelte die Bretter fest wie ein Profi. Ihre Hände bewegten sich automatisch, obwohl sie geistig nicht anwesend war. Statt um den Gartenhausbau kreisten ihre Gedanken um Jamies Reaktion. Dass er dermaßen überrascht gewesen war, wunderte sie. Hatte er wirklich geglaubt, sie würde nie anfangen, sich für Jungs zu interessieren?

Die Tatsache, dass Jamie so emotionslos reagiert hatte, verunsicherte Alany. War er sich nicht sicher, was er von ihrem ersten Kuss halten sollte? Der erste Kuss ist in den meisten Familien bestimmt keine so große Sache, dachte Alany, als sie sich eine Verschnaufpause gönnte. Für mich aber schon. Sie erinnerte sich, dass ihr von klein auf klar gewesen war, dass der erste Kuss etwas Besonderes für sie sein würde. Sie wollte die Liebe nicht als selbstverständlich hinnehmen und schätzte sich glücklich, dass ihr Vater das genauso sah. Er vertraute ihr und wusste, dass sie auf den Richtigen warten würde. Und dieser Richtige war schließlich unverhofft aufgetaucht.

Alany lächelte. Was für ein Glück sie hatte! Andere gerieten an Angeber oder Jungs, die sie nur ausnutzten, und sie hatte Milan. Ab jetzt gibt's keinen Grund mehr, die Beziehung zu verheimlichen, denn Daddy weiß Bescheid, flötete ihr eine imaginäre Stimme ins Ohr. Alany wurde warm ums Herz, als sie begriff, was es bedeutete, eine ‚offizielle' Beziehung zu führen. Sie konnte Milan anrufen. Er konnte sie anrufen. Sie konnten sich treffen, wann immer sie wollten.

Plötzlich wurde Alany von Panik gepackt. Würde sie Milan einladen und ihn Jamie formell als ihren Freund vorstellen müssen? Wann würde sie seine Eltern treffen? Wie sollte sie sich als seine Freundin verhalten? Würde sie sich komisch fühlen, wenn sie mit ihm händchenhaltend durch die Stadt lief? Ihre Hände begannen zu zittern und sie fühlte, dass Schweiß ihren Rücken hinunterlief. Einen Freund zu haben war nicht so märchenhaft einfach wie in den Disneyfilmen. Bleib ruhig, sagte Alany sich und legte sowohl den Hammer als auch die Nägel beiseite. Dann kletterte sie langsam die Leiter hinunter, wobei sie ihre schwankenden Beine ignorierte. Am Boden angekommen fühlte sie sich bereits besser. 

„Du hast Recht, gönn' dir eine Pause", vernahm Alany auf dem Weg ins Wohnzimmer Jamies Stimme, die ihr vom Gartenhausdach aus nachwehte wie eine frische Brise. 

                                                                      *

Im Wohnzimmer angekommen sank Alany auf dem Sofa zusammen. Milan, Jamie, Jamie, Milan. Da war sie wieder, die alte Alany, die über alles und jeden nachdachte. Über das, was die Zukunft für Milan und sie bringen würde, über ihre Unsicherheit, über Mariah, die immer noch im Krankenhaus lag... Alany schüttelte den Kopf, wie um all die wirren Gedanken darin loszuwerden. Fast trotzig rief sie sich Milans Gesicht vor Augen und dieses Bild löschte alle Bedenken in ihrem Kopf aus.

Um sich abzulenken, schaltete Alany den Fernseher ein. Mit ihrem Limonadenglas in der Hand zappte sie durch die Kanäle, bis sie auf Titanic stieß. Realitätsfern. Idealisiert. Herzschmerz. Genau die Mischung, die sie im Moment brauchte, um zu entspannen. Die Liebesgeschichte im Film war nicht echt und diese Gewissheit half Alany, ihre Gedanken nicht zu ihrer eigenen realen Beziehung abschweifen zu lassen. Sie genoss die Ablenkung von der Veränderung, die unmissverständlich Einzug in ihr Leben gehalten hatte. Auch wenn es nur einen Film mit Kate und Leonardo lang war.

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