6. Kapitel - Ein vertrautes Gesicht

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Ich spürte Vorfreude. Die innere Leere in mir verschwand ein kleines Stück mehr. Ich war doch nicht allein, ich hatte plötzlich eine Vertraute, eine Freundin, auf die ich immer zählen könnte. Ein kleines Lächeln schlich sich in mein Gesicht, während ich mich an die gemeinsamen Erlebnisse erinnerte. Obwohl ich sie bei unserer ersten Begegnung für jemanden gehalten hatte, mit dem ich mich nicht verstehen würde, war sie zu einer wirklich guten Freundin geworden. Gedankenversunken beobachtete ich, wie Michelle ruhig durch den Garten streifte und mich wohl immer noch nicht gesehen hatte. Eigentlich wollte ich sitzen bleiben und darauf warten, dass sie mich erkannte, aber dann stellte ich plötzlich einen größeren Zusammenhang zwischen ihr, dem Weißen Orden und Jayden her.

Wut stieg in mir auf. Michelle hatte es gewusst. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ich nur ein Auftrag für Jayden gewesen bin und sie hatte gewusst, dass er nie ernsthaft an mir interessiert gewesen war. Warum hatte sie nicht eingegriffen? Sie hatte zugelassen, dass ich mich in ihn verliebt habe? Ich meine so richtig? Meine Wut wurde stärker, unaufhaltsam begann sie erst in meinem Bauch zu brodeln und stieg dann langsam immer weiter meine Kehle hinauf. Wie hatte sie das nur zulassen können? Ich dachte wir wären Freunde.

Meine Geduld ging zu Ende und ich stand fest entschlossen auf, um Michelle zur Rede zu stellen. Mit großen Schritten ging ich auf sie zu. Ich bemühte mich meinen ernsten Gesichtsausdruck beizubehalten, als sie mich erkannte und mich daraufhin fest in ihre Arme schließen wollte. Ich blieb jedoch knapp vor ihr stehen und musterte sie enttäuscht. Michelle sah aus, wie immer. Sie machte ein freundliches Gesicht, hatte ihre langen, blonden Haare ordentlich gekämmt und sah auch sonst perfekt aufgestylt aus. Nur ihre Klamotten schienen nicht ihrem gewohnten Kleidungsstil zu entsprechen. Statt enger Jeans und Top, trug sie nun einen kartierten Rock und ein weißes Hemd. Ob es an dieser Schule eine Kleiderordnung gab?

„Hey Sam, wie geht's dir?", fragte sie glücklich mich zu sehen und zog mich in eine Umarmung, obwohl ich wirklich versucht hatte zu signalisieren, dass ich das in diesem Moment ganz und gar nicht wollte. Zum ersten Mal hatte sie mich Sam genannt. Es klang komisch, denn eigentlich war ich es gewohnt, dass sie mich Maya nannte. Kurz nachdem wir uns berührt hatten, zog ich mich aus der Umarmung zurück und brachte Abstand zwischen uns, während ich abwehrend die Arme vor der Brust verschränkte.

„Du hast es gewusst?", platzte es wütend aus mir heraus. Ich konnte meine Wut nicht mehr zurückhalten. Sie war längst meinen Hals hochgeklettert und so fing ich an, ihr einen Vorwurf, nach dem Anderen, an den Kopf zu knallen:

„Du hättest mich warnen sollen!"

„Du hätte mich davon abhalten sollen!"

„Warum hast du nichts gemacht?"

„Ich dachte wir wären Freunde!"

„Du hast zugesehen, wie ich mich in ihn verliebt habe und damit meine ich außerhalb seines blöden Liebeszaubers und du hast es zugelassen?! Warum?", zischte ich und machte zum ersten Mal eine Pause, um sie zu Wort kommen zu lassen.

„Sam, es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders."

„Natürlich! Du hättest mir sagen können was los ist", behauptete ich und sah ihr wütend entgegen. Egal was Janine mir gesagt hatte, Michelle hätte mich vor Jayden warnen müssen. Egal wie sie es angestellt hätte oder was sie sich dafür hätte ausdenken müssen, sie hätte mich vor ihm warnen müssen. Einfach, weil sie genau gewusst hatte, wie das mit uns enden würde und was das mit mir machen würde. Sie hatte es genau gewusst und nichts gemacht!

Genau diese Vorwürfe knallte ich ihr wieder an den Kopf und versuchte mein Unverständnis klarzumachen, aber Michelle sah mich nur wehleidig an und schüttelte überzeugt den Kopf, dass sie nie eine Wahl gehabt hätte.

Zufälle gibt es nicht! (2. Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt