15. Kapitel - Die Tragik der Gefühle

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Leider lag ich mit meinen Vermutungen goldrichtig. Mr. Bennet erwartete tatsächlich, dass wir unsere Gedanken mit dem Kurs teilten. Schon jetzt legte sich eine gigantische Gänsehaut über meinen Körper, weil ich es als so unfassbar unangenehm empfand. Ich meine seine tiefsten Gedanken sollten wir mit dem Kurs teilen? Gedanken, die wir vorher nicht einmal bewusst wahrgenommen hatten? Ich sollte meine tiefsten Gedanken, die ich nicht mal zu fassen bekommen hatte, mit wildfremden Leuten teilen? Das war ein Witz, das war taktlos - mehr noch, das war unverschämt! Wie konnte man das von mir verlangen? Von irgendwem? Ich würde vor Peinlichkeit im Erdboden versinken, egal was ich aufgeschrieben hätte. Selbst wenn es etwas wäre, mit dem der Kurs und Mr. Bennet übermäßig zufrieden gewesen wären. Ich müsste MEINE Gedanken teilen, MEINE Probleme. Das würde so viel über mich verraten. So viel mehr, als ich jemals jemanden offenbaren würde. Das ging niemanden was an! NIEMANDEN! Keinem Lehrer und keinem Schüler, absolut Niemanden!

Meine Fassungslosigkeit sah man mir wohl an, denn Michelle flüsterte mir zu, dass ich mir keine Sorgen machen müsse und dass er das nicht von mir verlangen würde. Michelle's Worte waren nett gemeint, aber sie änderten nichts an der Tatsache, dass mir das alles super unangenehm war und es beruhigte mich auch nicht. Ich hatte einfach die stille Vorahnung, dass ich schon bald im Mittelpunkt des Kurses stehen würde.

Weil ich Mr. Bennet's Forderung als so unangenehm und viel zu persönlich empfand, war ich davon ausgegangen, dass er jemanden bestimmen würde, der seine Gedanken mit uns teilen müsste, weil niemand so etwas freiwillig machen würde. Aber gegen all meiner Erwartungen gab es Freiwillige. Einige Freiwillige sogar. Unter ihnen war der Typ mit dem roten Streifen am Hosenbein und ausgerechnet ihn nahm Mr. Bennet dran. Mein Schamgefühl stieg ins Unermessliche. Ja, ich hatte ihn kennenlernen wollen, aber ich wollte doch nicht, dass er viel zu viel von seiner Persönlichkeit so schnell, so plötzlich und dem ganzen Kurs mitteilen würde. Aber Connor, so hatte ihn Mr. Bennet genannt, ging mit seiner Aufgabe ganz gelassen um. Er nahm seinen Zettel und wartete darauf, dass alle zu ihm sahen. Dann genoss er es Mittelpunk aller Aufmerksamkeit zu sein und begann seine Persönlichkeit zu entblößen:

„Wir erfahren gleiche Schmerzen, körperlich und selig. Manchmal befinden wir uns in Krisen, die Andere so oder so ähnlich erfahren haben und doch fühlen wir nie das Gleiche. Ich habe mir nie etwas sehnlicher gewünscht, als eine Person, die meinen Schmerz fühlt, die ihn versteht." Ich schloss die Augen und hätte mir am liebsten beide Ohren zugehalten. Es war so verdammt unangenehm. Warum sollte er das mit dem gesamten Kurs teilen wollen? Er gab zu, dass er Schmerz erlitten hatte und seine Art sich auszudrücken und wohin das Ganze zu führen schien, machten deutlich, dass es besonders um seelischen Schmerz gehen musste. Warum gab er das nur zu? Er machte sich damit verletzlich. Und warum sollte er das wollen? Wollte er Aufmerksamkeit? Brauchte er Aufmerksamkeit? Das wäre noch peinlicher.

„Wir lieben es uns bei Anderen zu beschweren, aber nur weil wir erwarten, dass sie ähnlich aufgebracht reagieren. Das Gleiche erwarten wir, wenn wir jemanden von unserem Schmerz erzählen, aber egal was sie sagen und sie können dabei genau das Richtige sagen, sie werden nie verstehen, wie es sich für uns anfühlt. Ich habe jeden Tag nach jemanden gesucht, der genauso fühlt, wie ich, der mich oder zumindest Teile von mir, zu hundert Prozent versteht, sie genauso fühlt... aber eben habe ich verstanden, dass es so jemanden nicht gibt, so jemanden nie geben wird. Das ist eine niederschmetternde Erkenntnis, denn ich dachte diese Person könnte mich heilen, mir all meinen Schmerz nehmen. Aber das kann sie nicht, sie existiert nicht. Auf unserem Planeten gibt es niemanden, der genauso fühlt, wie du, der genau weiß, was und wie du etwas in diesem Moment fühlst oder es mal gefühlt hast. Das ist auf der einen Seite tragisch, denn ein großer Teil von uns bleibt jedem verborgen. Da wird immer etwas in uns sein, das der Andere nicht kennt, wovon er keine Ahnung hat, egal wie lange man sich kennt, wie viel Zeit man auch miteinander verbringen mag. Andererseits ist es magisch, denn wir sind die Einzigen, die uns kennen und da wird es immer einen Teil in uns geben, den nur wir kennen, den nur wir beherrschen, den nur wir verstehen und das ist okay, denn es macht uns besonders, es macht uns anders als Andere, es macht uns einzigartig...und doch ist es tragisch." Leises Klatschen erfüllte den Raum. Connor legte seinen Zettel beiseite und sah furchtlos in die Menge. So lange, bis sein Blick an mir hängen blieb.

Zufälle gibt es nicht! (2. Teil)Onde histórias criam vida. Descubra agora