Der Tag der Erweckung

393 20 7
                                    

Endlich. Sonnenlicht tänzelte über die dichten Baumkronen des Waldes, als ich mit wachsamem Auge auf die gut zwanzig Fuß entfernte Lichtung zuhielt. Der Wald war mein zweites Zuhause, weshalb ich schon frühzeitig gelernt hatte, mich nahezu lautlos in ihm fortzubewegen. Das umliegende kupferrote Laub, das sich teilweise zu hohen Bergen zusammengebauscht hatte, und mit dem Wind ein sanftes Lied anstimmte, machte es mir geradezu leicht.

Am Rand der Lichtung angekommen, zog ich einen Pfeil aus dem Köcher auf meinem Rücken und ging hinter dem dicken Stamm eines Ahornbaumes in Deckung. Mit geübten Handgriffen spannte ich den Bogen und nahm das Wild, welches unweit stand, ins Visier. Eine Bache.

Nahezu friedlich graste sie im Beisein ihrer Jungen – fünf an der Zahl – auf der saftgrünen Wiesenfläche, die in ein Spiel aus Licht und Schatten getaucht war. Keines der Tiere ahnte etwas von meinem Vorhaben. Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht und richtete die Pfeilspitze auf die Kehle des Wildschweins.

Ein Schuss reichte aus. Innerhalb von Sekunden tränkte Blut den Waldboden.

Die Frischlinge quiekten, rannten panisch durcheinander, doch huschten letztlich zurück in den Wald. Das war mein Stichwort. Den Bogen noch immer in Händen, trat ich hinter der Ahornweide hervor und hielt auf den Kadaver zu.

Die Göttin war uns heute wahrlich gnädig.

Mit einem Ruck zog ich den Pfeil aus dem Fleisch, woraufhin noch mehr Blut die fruchtbare Erde unter meinen Füßen benetzte. Dann legte ich den Bogen beiseite, packte die Hufe des Tieres und hievte mir den wuchtigen Körper auf die Schultern.

»Tholon!«

Unvermittelt stand Cinora vor mir und musterte mit gerümpfter Nase meine Ausbeute. »Du hast wirklich eins erwischt.« Sie strich sich ihre kastanienbraunen Locken hinters Ohr und ließ das bronzene Jagdmesser, das sie einst aus der Schmiede hatte mitgehen lassen, hinter ihrem Rücken verschwinden.

Als ich den leblosen Körper des Hasen, der in ihrer Hand baumelte, entdeckte, verkniff ich mir einen Fluch. »Ernsthaft, Cinora?«

Sie war eine gute Jägerin, daran bestand kein Zweifel, doch durfte eben das gemäß den Regeln der Göttin nicht sein. Für eine Demea waren andere Aufgaben bestimmt. Cinora kümmerte das jedoch wenig, ihr Wille war nicht zu brechen. Aber ausgerechnet heute?! Die Steladen könnten jeden Augenblick eintreffen. Sie sollte gemeinsam mit den übrigen Häusern auf dem Platz des Mondes deren Ankunft abwarten und sich nicht mit mir in diesem Winkel des Waldes herumtreiben. »Bist du mir gefolgt?«, fragte ich weiter.

»Hast du etwas anderes erwartet?«

Ich hatte gehofft, sie würde es unterlassen. »Das ist gefährlich, Cinora, verstehst du das nicht?«

»Nein.«

»Nein?«, wiederholte ich.

Sie schüttelte den Kopf und erklärte: »Ich bin frei und kann tun und lassen, was ich will.«

»Ja, gewiss.«

»Ja!«, betonte sie nachdrücklich und wechselte abrupt das Thema. »Das Blut bekommst du nie wieder raus, das ist dir klar, oder?« Ich folgte ihrem Blick und betrachtete meine ehemals ockergelbe Tunika, die sich durch das Blut des Kadavers mehr und mehr rot färbte. »So kannst du nicht zur Zeremonie gehen«, fügte sie hinzu.

»Weiß ich.«

»Ach ja?«

»Ja.« Dann deutete ich auf den Hasen in ihrer Hand. »Sieh zu, dass dich keiner erwischt. Und beeil dich.« Bisher hatte niemand in der Stadt Verdacht geschöpft, dass Cinora gegenüber der Göttin ungehorsam war. Das sollte auch so bleiben.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt