Mutterliebe

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Ich empfand nichts als Glück. Dieses Gefühl war so stark, dass es die in den Schatten lauerende Dunkelheit vertrieb. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten machte ich mir keine Gedanken um die Zukunft. Es gab nur die Gegenwart und ihr strahlendes Licht. Ein Licht, das Ashra mir schenkte.

Mit großen Schritten hielt ich auf das Ufer der Bucht zu. Heute blühten die Meerrosen besonders schön, was mich dazu verleitete, eine der Blumen für Ashra zu pflücken. Sie würde ihr ein Lächeln auf die Lippen zaubern – so hoffte ich zumindest. Die Sterne wussten, ich liebte ihr Lächeln und würde alles dafür tun, damit es nicht verblasste.

Ein Blick in Richtung des gestrandeten Schiffes zeigte mir Martizian und Octavia, die soeben erst in der Zwischenwelt eingetroffen waren. Mein Bruder trug einen derart großen Rucksack auf seinem Rücken, dass ich nur grinsend den Kopf schütteln konnte. Was hatte er vor? Die nächsten fünf Jahre auf See zu verbringen?

Eilig watete ich durch das Wasser, suchte mir eine der seltenen rotblühenden Rosen aus und kehrte dann zum Schiff zurück. Octavia winkte mir bereits aus der Ferne zu, sie unterhielt sich mit Ashra. Martizian dagegen deutete auf die Blume in meiner Hand und rief: »Ist die für mich?«

Bevor ich etwas entgegnen konnte, schaltete sich Octavia dazwischen. »Das hast du jetzt nicht wirklich gefragt.«

»Was, keine berechtigte Frage?«

»Nein«, entgegnete Ashra und kam auf mich zu, ihre Augen funkelten verschmitzt. »Er hat sie für mich geholt.«

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Richtig«, zärtlich strich ich ihr einige Haarsträhnen hinters Ohr und steckte ihr die Blüte ins Haar. »Sie ist für dich.«

Ashra lächelte und versetzte damit mein Herz in Brand – so bezaubernd, leicht und echt, dass ich mein Glück kaum fassen konnte. »Wunderschön«, flüsterte sie so leise, dass nur ich es vernehmen konnte. »Danke.«

»Wie steht es eigentlich um dein Gedicht, Bruderherz? Hat eine der Mandarinenschalen sich geschmeichelt gefühlt, als du es ihr vorgetragen hast?« Octavia legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Schiffsmasten hinauf.

»Du verspottest mich, Schwester.« Dramatisch fasste sich Martizian an die Brust. »Die Worte drängten aus meiner Seele, was hätte ich denn tun sollen?«

»Sie zurückdrängen.«

»Welch Schmach wäre dieses Unterfangen.«

Octavia setzte zu einer Erwiderung an, doch Ashra kam ihr zuvor. »In der Tat.«

Dankend verneigte sich mein Bruder. »Jemand, der meine Kunst zu schätzen weiß.«

»Ich schätze deine Kunst, nur nicht deinen Mandarinenwahn, Martizian!«, erklärte Octavia und verschränkte die Arme vor Brust. »Eines Tages wird er dich noch verzehren.«

»Ich bin mir sicher, falls dieser Tag kommen sollte, würdest du mich vor dem Verzehr bewahren.«

Mit gespieltem Ernst konterte meine Schwester: »Selbstverständlich.«

»Namir ...«, Ashra verschränkte ihre Finger mit meinen, »komm mal mit.« Sie führte mich hin zum Heck des Schiffes und damit weg von dem ausgelassenen Gespräch, das sich zwischen meinen Geschwistern zutrug.

»Was willst du mir zeigen?« Die Nähe zu ihr berauschte mich, deshalb beugte ich mich vor und küsste sie sanft auf die Schläfe.

»Das hier.« Ashra deutete auf eine Reihe silberner Ornamente, die sich über die Holzplanken wanden; ein wissendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, derweil sie Lelei, die sich in ihrer Manteltasche befand, übers Köpfchen strich.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt