Fäulnis und Kälte

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Die Strahlen des Mondes wanderten über die Dächer der Stadt und wiegten die Welt in Sicherheit. Nicht so mein Herz. Das alles war ein Fehler gewesen, ein ganz großer Fehler.

Unruhig wälzte ich mich auf dem Strohbett hin und her, derweil eisige Kälte meinen Körper gefangen hielt. Ich wusste nicht, wie viel Zeit bereits verstrichen war, seit Cinora mit Parina den Hof verlassen hatte, doch Sedaria hatte sich, nachdem ich in die Dachkammer zurückgekehrt war, nichts von dem, was sie gesehen haben musste, anmerken lassen.

Da sie nahezu friedlich geschlafen hatte, war ich deshalb trotz aller Risiken umgekehrt und Cinora gefolgt – vergeblich, wie sich herausstellte. Denn weder in den Gassen der Stadt noch in der Nähe der Waldpforten hatte ich sie ausfindig machen können. So war mir schlussendlich nichts anderes übriggeblieben, als zum Haus zurückzukehren.

Seither lag ich hier. Und wartete.

Ich wartete, dass die Zeit verrann und mir Cinora zurückbrachte.

...

»Tholon, wach auf!« Eine Hand packte mich an der Schulter und riss mich aus einem traumlosen Schlaf. Blinzelnd musterte ich das Sonnenlicht, welches über die Holzdielen des Speichers tänzelte. Der Morgen war längst angebrochen. Mit einer Hand fuhr ich mir übers Gesicht, nur langsam sortierten sich meine Gedanken, um dann festzustellen: Cinora war nicht hier!

»Es ist etwas geschehen«, fuhr Joron fort und band sich die Haare am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. »Die anderen sind bereits vorausgegangen.«

Schatten umklammerten meine Seele. Cinora war bei ihnen, mit Sicherheit. Sie musste bei ihnen sein. »Was ... ist vorgefallen?« Sie war in Sicherheit. Es konnte nicht anders sein.

»Ich weiß es nicht. Komm!«

Kurz darauf folgte ich Joron nach draußen. Die Stille, die über der Stadt wie ein schwerer Nebelschleier lag, jagte mir kalte Schauer das Rückgrat hinunter. Längst hatte ich begriffen, dass wir auf den Platz des Mondes zuhielten. Nicht erwartet hatte ich jedoch, alle Häuser dort versammelt vorzufinden; sie bildeten einen riesigen Halbkreis vor den steinernen Stufen des Altars.

»Eine Fäulnis breitet sich in den Wäldern aus. Ein Übel, das auf sie zurückzuführen ist.« Die Stimme einer Jägerin.

Ich konnte weder sehen, zu wem sie sprach, noch von wem. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich jedoch, die an Schrecken zunahm, sobald ich die Mitglieder meines Hauses erblickte – alle, bis auf die Frau, die mir alles bedeutete.

»Sag uns, hat die Göttin dich geschickt?« Noch immer versperrten Menschenkörper mir die Sicht.

»Wohl kaum.«

Zwei Worte, die mir durch Mark und Bein fuhren. Wie betäubt drängte ich mich an Odnar vorbei und erstarrte bei dem Anblick, der sich mir daraufhin bot: Parina. Schwarze Adern, die sich wie die Wurzeln eines Baumes um ihren Körper wanden, überwucherten ihre Haut. Die Bramordar stand ihr gegenüber, ebenso zwei Jägerinnen, die Pfeil und Bogen auf die am Boden sitzende Frau gerichtet hatten.

»Die Wälder sterben, Priesterin«, erklärte Wila, die Hausmutter der Jägerinnen. »Was gedenkt Ihr nun zu tun?«

Die Bramordar raffte ihr Gewand und trat einen Schritt beiseite. Dadurch gab sie den Blick auf eine weitere Gestalt frei ...

NEIN!

»Cinora!« Ich stürmte nach vorne. Weder kümmerte es mich, dass nun alle Blicke auf mir ruhten, noch dass ich so offen meine Gefühle zur Schau stellte. Schlitternd kam ich neben ihr zum Stehen und sank auf die Knie. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Körper von denselben schwarzen Wurzeln gezeichnet, die sich auch auf Parinas Haut ausbreiteten.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt