Unter der Nebelpassage

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Wärme umfing mich und ließ meine Haut kribbeln. Ein Gefühl der Ruhe und des Friedens lag über meiner Seele. Ich war nicht allein. Jede Faser meines Körpers spürte ihre Präsenz.

»Ashra?«, hauchte ich, öffnete die Augen und blickte in ein endloses Wolkenmeer. Dann musterte ich meine Hände, die noch immer meine eigenen waren. War Kjertans Plan etwa fehlgeschlagen?

»Namir! Was ist mit dir?«

Ruckartig richtete ich mich auf und versuchte, in dem Nebeldunst etwas zu erkennen – vergeblich. »Ich –«

Mit einem Mal wichen die Wolkenberge vor mir zurück und gaben einen Pfad frei, der hin zu einem riesigen, über der Erde schwebenden Spiegel führte. Nacht, die sich in einem Ozean aus Sternen verlor, waberte an dessen Rändern, aber meine Aufmerksamkeit galt nur dem, was sich in der silbernen Oberfläche widerspiegelte.

Nein ...

Ich stürmte nach vorne, derweil sich Kjertan in meinem Körper erhob und finster auf Ashra hinabblickte. Sofort wich Ashra einen Schritt zurück. Ihre Miene verwandelte sich in eine undurchdringliche Maske, hinter der sie ihre Gefühle zu verbergen versuchte. Sie hatte erkannt, dass der Mann vor ihr nicht ich war.

»Dein Freund«, hörte ich mich selbst mit Kjertans Stimme sprechen, »ist nicht länger hier.«

Ashras Mundwinkel zuckten. »W-was ...?« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Was hast du ihm angetan?« Im nächsten Moment versuchte sie, Treyas Sohn anzugreifen. Doch es war Martizian, der sie am Arm packte und zurückhielt.

»Lass mich los!«

»Siehst du sie nicht? Die Finsternis, die ihn umgibt?«

»Du ...«, Kjertan schmunzelte und hob die Augenbrauen, »kannst das Chaos sehen?«

Martizians Kiefermuskeln spannten sich an. »Wo ist Namir?«

»Er ist euch vorausgegangen.«

»Was soll das heißen?« Octavia schob sich schützend vor Ashra.

»Das heißt«, der Schatten trat näher, »dass er nicht mehr unter uns weilt. Seine Seele hat diesen Körper für immer verlassen.«

»Er ...«, Ashras Stimme brach, »er ist tot?« Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln.

»Ja.«

Was?! Nein! Ich war nicht tot – das glaubte ich zumindest. »Ich bin hier!«, rief ich und berührte die glatte Oberfläche des Spiegels. Doch niemand vernahm meine Worte – da war nur der wachsende Schmerz in Ashras Seele, den ich spürte, als wäre es mein eigener.

Martizians Gesichtszüge verdunkelten sich. »Du hast unseren Bruder getötet?« Langsam näherte er sich Kjertan und baute sich bedrohlich vor ihm auf. »Und hast seinen Körper wie ein Parasit besetzt?«

»Scheint so, oder?«, murmelte der Schatten und kniff die Augen zusammen. Dann packte er Martizian unvermittelt am Hemdkragen, unter dem sich die schwarzen Ketten von Treyas Bannzauber abzeichneten.

»Sie hat ...« Wütend riss er Martizian mit sich zu Octavia herum, die er ebenso eingehend musterte. »Sie hat euch in Ketten gelegt.« Ein bestialischer Laut entfuhr seiner Kehle, dann formierte sich Magie um seine Fingerspitzen und der Bannspruch, welcher uns jahrzehntelang gefangen gehalten hatte, zerbrach. Innerhalb von Sekunden.

Martizian zögerte nicht. Sofort schnellte seine Hand vor und umfasste Kjertans Handgelenk so fest, dass die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. »Ich werde dich –«

»Nichts wirst du«, unterbrach ihn der Schatten und stieß meinen Bruder von sich. »All dies wird ohnehin bald keine Bedeutung mehr haben.« Seine Augen trübten sich, dann lachte er leise. »Wie mir scheint, ruft Mutter nach mir. Wir sollten sie nicht warten lassen.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsDonde viven las historias. Descúbrelo ahora