Die Hüterin des Wissens

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Die sanften Klänge einer Harfe schwebten über die gepflasterten Gehwege und verwinkelten Gassen der Stadt, sie untermalten das leise Zwitschern einiger Meisen, die auf den angrenzenden Hausdächern saßen und den Morgen begrüßten. Zarte Geigenklänge stimmten sogleich in die melodischen Harfentöne mit ein; zu ihrem Klang entfaltete sich der neue Tag.

Eine Idylle.

Doch ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Um genau zu sein, bei Cinora. Und ihren Augen, die bis auf den Grund meiner Seele zu sehen vermochten. Bei der Erinnerung an ihre Nähe durchströmte mich ... Leichtigkeit. Abrupt biss ich mir auf die Zunge und schmeckte Blut.

Das durfte nicht sein.

Es durfte einfach nicht sein.

Gewaltsam versuchte ich die Wärme, die meinen Körper mit Leben erfüllte, zu vertreiben und sie durch gleichgültige Kälte zu ersetzen. Jedoch vergebens.

Angespannt hob ich den Blick und fokussierte mich stattdessen auf den in den Himmel ragenden schwarzen Turm, der sich über die Dächer der Stadt wie ein Wächter erhob und dem wir mit jedem Schritt näher kamen; die Hüterin lebte nahe den Wäldern am äußersten Rand der Stadt, weshalb der Turm auch als Wegweiser in ebenjene Richtung fungierte.

»Was wird meine Aufgabe sein?« Sedaria verlagerte den Gabenkorb, den sie in der Armbeuge trug und sah zu mir auf; ihre rubinroten Iriden funkelten geradezu im Licht der Morgensonne.

»Hat dir Mamar nichts erzählt?«, entgegnete ich, obgleich ich derzeit andere Probleme hatte, als mit der Erweckten ein Gespräch über das Leben und unseren Glauben zu führen.

»Schon. Ich werde der Göttin dienen.«

»Das tun wir alle.« Ich duckte mich unter einem Marmorbalken hindurch, der von drei Frauen und zwei Männern aus dem Haus der Steinmetze getragen wurde und so gewaltig war, dass er die gesamte Straße versperrte. Sedaria bedeutete ich, mir zu folgen.

»Stimmt. Aber du schmiedest, oder? Und die anderen auch. Mamar sagte, ich sei eine Demea. Aber sie erklärte mir nicht, was das bedeutet.«

»Hast du schon einmal mit Cinora gesprochen?« Allein ihr Name sorgte für ein Kribbeln in meinem Bauch. Verdammt, das musste aufhören!

»Nein, noch nicht. Sollte ich?«

Liberas Haus war nicht mehr weit entfernt, weshalb ich lediglich erwiderte: »Die Hüterin wird dir die Antworten geben, nach denen du suchst.«

Keine zehn Minuten später fand ich mich mit Sedaria vor einer kalkweißen Tür, auf der ein lotusförmiges Siegel prangte, wieder; der schwarze, fensterlose Turm ragte wie ein Schatten im Hinterhof auf. Kurzerhand führte ich Mittel- und Zeigefinger zu meinen Lippen und legte sie dann auf das Siegel, das sogleich aufleuchtete.

Man erwartete uns bereits.

Ich selbst hatte das Haus des Wissens bisher nur ein einziges Mal betreten, am Tag meiner eigenen Einweisung. Doch ich erinnerte mich noch daran, wie sich Cinora seinerzeit als meine Begleiterin verhalten hatte. Also tat ich nun das Gleiche, drückte die Klinke der Tür nach unten und trat ein.

Räucherduft strömte mir aus dem Inneren des Hauses entgegen und umgab mich wie einen unsichtbaren Schleier; nur mühsam gelang es mir, einen Hustenanfall zu verhindern – das war eindeutig etwas zu viel des Guten. Ich ließ Sedaria passieren und schloss die Tür hinter uns wieder.

Die Erweckte schien sich an dem penetranten Duft, der über dem hohen Gewölbesaal lag, nicht zu stören. Ihre Augen schweiften über die Wände, an denen sich unzählige Bücher und Pergamente ordentlich auf Regalbrettern aneinanderreihten, weiter zu den tief ins Mauerwerk eingelassenen Fenster, in denen sich das Sonnenlicht brach und Lichtstreifen auf den karminroten Teppich am Boden warf.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt