Familienbande

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Taubheit machte sich in meinem Körper breit, derweil ich durch die Korridore des Palastes rannte. Weg von Treya. Und weg von Sistar. Dieser Dämon lässt sich wohl kaum als mein Neffe bezeichnen. Seine kalten und unnachgiebigen Worte verfolgten mich. Nichts erinnerte mehr an den Mann, den ich zu kennen geglaubt hatte.

Nie hatte Sistar auch nur ein schlechtes Wort über Himarion verloren, nie hatten sie Streit oder Differenzen gehabt. Niemals hätte er ... Und doch sprach der Hass, der in den Augen meines Onkels gestanden hatte, von Dingen, die schon seit Jahrzehnten in Sistars Seele gären mussten.

Schwer atmend hielt ich inne und suchte Schutz hinter einem Wandvorsprung, zerschlagen lehnte ich mich dagegen und sank zu Boden. Dabei flüsterten mir die Stimmen aus den Schatten eine Wahrheit zu, der ich kein Gehör schenken wollte.

Nein! Ich konzentrierte mich auf die Fakten: Sistar stand in den Diensten der Nachtfürstin. Ob er manipuliert worden war? Das würde zumindest sein Verhalten erklären. Wer wusste schon, was Treya ihm über das Reich der Abenddämmerung und unseren angeblichen Verrat erzählt hatte.

Andernfalls ...

Mir wurde schlecht. Was, wenn Sistar der Nachtfürstin freiwillig diente? Was ... was, wenn er in die Ereignisse jener Nacht verstrickt gewesen war? Nein, so etwas durfte ich nicht denken, aber ... wenn doch ...

Ich schluckte, presste die Augen zusammen und fokussierte mich auf meinen Atem. Denk nach, Namir! Irgendetwas übersah ich.

Treya hatte während des Schattengerichts von Erinnerungsperlen gesprochen, die den Seelen geraubt worden waren. Damals hielt ich es lediglich für eine intrigante Behauptung. Nur Vater wäre als Fürst des Reiches dazu in der Lage gewesen, die Perlen zu formen und zu stehlen – was er nicht getan hatte! Es sei denn ...

»Wo willst du hin?«, fragte Lelei.

Ich musste mir Klarheit verschaffen. Und zum ersten Mal wusste ich auch, wo ich nach Antworten suchen musste. Auf dem Weg in die Archive begegnete ich Xorian; mit überkreuzten Beinen saß er an dem Nussbaumtisch und schnitzte an einer seiner Holzfiguren. »Ah, da bist du«, er sah von der Schildkröte in seinen Händen auf und lächelte. »Wollen wir vielleicht –«

»Nein«, schnitt ich ihm das Wort ab, steuerte auf die Wendeltreppe zu und begab mich in die lauernde Finsternis.

Fünf Tage später ...

Aufbrausend donnerte ich einen Stapel Bücher vor mich auf den Tisch. Nichts. Wieder nichts. Tag und Nacht verbrachte ich in diesem verfluchten Archiv und konnte doch nichts finden. Dabei wusste ich ganz genau, dass Die Kinder der Abenddämmerung – eine der vielen Chroniken unseres Reiches – existierten.

Es handelte sich um eine Niederschrift über die Magie der Fürstenkinder. Ich brauchte sie, um meinen unaussprechlichen Verdacht zu bestätigen.

Zeit meines Lebens hatte ich nie nach den Fähigkeiten meines Onkels gefragt. Was, wenn ihm seine Magie ebenfalls gestattete, auf die Erinnerungen der Seelen zuzugreifen? Dann wäre die Behauptung der Nachtfürstin keine Lüge gewesen, sondern Sistar hätte ihr geholfen.

»Bitte sag mir, dass du etwas gefunden hast.«

Es dauerte einen Moment, bevor Lelei hinter der Brüstung im dritten Stockwerk auftauchte und resigniert den Kopf schüttelte. »Nein, tut mir leid.«

Wutschnaubend ballte ich meine Hand zur Faust. Ich war es leid. So verdammt leid. Ich brauchte Gewissheit. Jetzt! Mit großen Schritten durchquerte ich den Saal und ließ die verstaubten Bücher hinter mir.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt