Sturmwolken

25 4 2
                                    

Widersprüchliche Gefühle tobten in mir. Mein Herz drängte zu ihr. Mein Herz hielt mich zurück. Und dann ... dann stand sie plötzlich vor mir. Harz verklebte ihr Haar und überzog ihren Körper wie eine zweite Haut. Ihre Gesichtszüge waren versteinert, das lebendige Funkeln hinter den blaugrauen Augen verschwunden.

Unvermittelt streckte sie eine Hand aus und fing die Träne, die mir über die Wange rann, mit ihren Fingerspitzen auf. Dabei fühlte ich mich mit ihr auf eine Art und Weise verbunden, die quälend und wunderschön zugleich war.

Sie lebte ...

Für den Bruchteil einer Sekunde stellte ich mir vor, sie in meine Arme zu ziehen. Aber das ... konnte ich nicht. Stattdessen wich ich abrupt einen Schritt zurück und brachte ausreichend Distanz zwischen uns. Dabei entging mir nicht das schwarze Augenpaar, das auf ihrer Schulter hinter einem Vorhang aus Haaren versteckt hervorlugte. War das ... ein Chamäleon?

»Sie konnte der Stadt entkommen«, sprach Martizian das Offensichtliche aus und näherte sich uns. An die menschliche Seele gerichtet, fuhr er fort: »Wie war dir das möglich?«

Die Stille, die daraufhin folgte, war erdrückend. »Tholon.«

Martizian hob eine Augenbraue. »Wer ist –«

»Sie meint unseren Bruder«, klärte ihn Octavia auf.

»Namir?«

Cinora neigte den Kopf. »Namir ...«

Ich begegnete ihrem Blick, schluckte schwer und erwiderte nüchtern: »Ich bin nicht der, für den du mich hältst.«

»Du bist der Grund, aus dem ich hier bin. Etwas von dem, was ich glaube, muss demnach der Wahrheit entsprechen«, konterte sie kühl.

Sie verstand nicht. »Das zwischen uns ist eine Lüge gewesen.« War dem wirklich so? Warum fühlten sich die Worte dann so falsch an?

»Ich kenne meine Gefühle und sie lügen nicht!«

»Ja? Wenn du solchen Wert auf sie legst, wieso bist du dann den Handel eingegangen und hast sie aufgegeben?« Damit war ich zu weit gegangen, doch nun konnte ich das Gesagte nicht mehr zurücknehmen.

Ihre Miene verdunkelte sich und das Chamäleon krümmte sich kläglich in ihrer Halsbeuge zusammen. »Sprich nicht mit mir, als wüsstest du, wovon du redest, Dämon!«

Unbändige Wut wallte in meiner Seele auf. »Was willst du hier, Cinora?«

»Ich werde nicht dorthin«, sie deutete auf die Tannenwipfel jenseits der Sonnensäulen, »zurückkehren.«

Mir entfuhr ein Schnauben. »Dafür ist es zu spät, meinst du nicht? Deine Seele gehört doch längst ihr

»Meine Seele gehört niemandem!«, knurrte sie und bleckte die Zähne.

»Die Tatsache, dass du hier bist, widerspricht dem.«

Unerbittlich hielt ich ihrem vernichtenden Blick stand und ließ dabei das Feuer in meinem Innern alles verzehren. Es infiltrierte meine Gedanken, riss und zerrte an meinem Sein und hauchte meinem Körper doch für einen kurzen Augenblick wieder Leben ein.

»Und du, warum bist du hier?« Mit gerümpfter Nase musterte sie die aus Sandstein gehauene Fassade des Palais hinter mir. »Bist du etwa ihr Schoßhündchen und bewachst ihre Stadt?«

Mein Verstand setzte aus und ich schnellte vor. Cinoras Augen funkelten hasserfüllt und fachten meine eigene Wut um ein Vielfaches an. So vieles lag mir auf der Zunge, das ich hinausschreien wollte. Doch ich beschränkte mich auf fünf Worte: »Mach doch, was du willst!«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now