Farben in der Nacht

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Tagen vergingen. Tage, die ich in Finsternis und qualvollem Schmerz verbracht hatte, tief vergraben in den Verliesen meiner eigenen Seele. Nichts und niemand vermochte dort unten zu mir zu gelangen und doch ...

Es war der Gedanke an Cinora gewesen, der mich zurückgeholt hatte.

Der Gedanke an ihre Stimme. Ihr Lächeln. Ihr Licht.

Die Kammer lag in völliger Dunkelheit, als ich mich dazu durchrang die Augen zu öffnen. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war das Gespräch mit Octavia im Studierzimmer. Danach war ich hierher zurückgekehrt und von den Schatten der Vergangenheit eingeholt worden.

Verdammt ...

Benommen richtete ich mich auf und tastete mich zum Türrahmen vor, durch den an einigen Stellen das Licht des dahinterliegenden Korridors hindurchschimmerte. Dabei stieß ich gegen einen herumstehenden Pflanzenkübel, der durch meine fehlende Koordination fast zu Bruch gegangen wäre. Schließlich erreichte ich die Tür, stieß sie auf und trat in den Flur hinaus.

Zischend bedeckte ich meine Augen und schirmte sie vor der Helligkeit ab.

Ich war es so leid, in diese Starre zu verfallen und derart in meiner Gefühlswelt gefangen zu sein, dass das Einzige, woran ich mich hinterher nur noch erinnern konnte, blutgetränkte Bildfetzen waren. Ich war es leid, nicht Herr über meinen eigenen Körper zu sein.

Schritt für Schritt tastete ich mich an der Wandverkleidung vorwärts, weg von der Dunkelheit, die in der Kammer hinter mir lauerte. Bis mir mit einem Mal eine Gestalt den Weg versperrte.

Octavia. Sorge und Erleichterung zeichneten ihre Miene. In ihren Händen hielt sie eine Schale mit aufgeschnittenen Fruchtstücken. »Mund auf!«

Ehe ich mich versah, erfüllte eine prickelnde Süße meine Geschmacksnerven. »Octavia, ich –«

Sie wedelte mit einem weiteren Mandarinenstück vor meiner Nase herum. »Mund auf, wir sind noch nicht fertig!«

Ihr mahnender Gesichtsausdruck zauberte mir ein dünnes Lächeln auf die Lippen. »Du musst das nicht tun.« Im Gegensatz zu den Menschen benötigten wir keine Nahrung, um zu überleben oder wieder zu Kräften zu kommen.

Sie schürzte die Lippen. »Ich weiß. Aber es hilft.«

»Wobei?« Vergeblich versuchte ich, mit der konstanten Essenszufuhr zurechtzukommen.

»Um dich auf andere Gedanken zu bringen«, erklärte Martizian und tauchte hinter Octavia auf. Im Arm trug er ein halbes Dutzend Mandarinen, die er unter meinem kritischen Blick sogleich hingebungsvoll hin und her zu wiegen begann. Dabei glich er einer Menschenfrau, die ein kleines Kind –

Hastig kaute ich zu Ende. »Wisst ihr, wo Cinora ist?«

Mein Bruder nickte. »Im Vorhof. Auf dem Sternenplatz.«

Gut, ich durfte nicht länger zögern.

Doch mir lag noch etwas auf dem Herzen – etwas, das schon sehr lange dort weilte, jedoch nie Ausdruck durch Worte gefunden hatte. Und wer wusste schon, wie viel Zeit mir noch blieb.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, brachte ich deshalb hervor: »Ich ... wollte euch noch Danke sagen. Für alles. Ihr ... Ich mache es euch nicht einfach, das weiß ich.« Mein Herz stolperte. »Aber ohne euch wäre ich längst verloren.«

Mehrere Sekunden verstrichen, in denen sich niemand rührte, dann trat Martizian vor und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. Ich zuckte unter der Berührung zusammen, doch ließ sie geschehen. »Wir sind eine Familie. Wir werden immer für dich da sein, Bruder.« Er zwinkerte. »Ganz gleich, was für ein kleiner Sturkopf du auch manchmal sein magst.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now