Die Stimme aus den Schatten

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Das ausgelassene und lebhafte Treiben der Gäste verstummte, sobald ich als einer der letzten Kandidaten die Spiegelwände des Tanzsaals durchquerte. Die Finsternis des Portals, welches die Nachtfürstin heraufbeschworen hatte, verschluckte mich sofort, nur um mich kurz darauf auf eine lichtdurchflutete Ebene zu führen. Vom grellen Sonnenlicht geblendet, hielt ich mir schützend eine Hand vor Augen und suchte nach Orientierung. Steinskulpturen, die den Lebensweg eines Mannes von der Geburt bis zum Tod darstellten, umringten die grasbewachsene Anhöhe, auf der ich mich befand. Von den übrigen Teilnehmern des Cibums fehlte jede Spur.

»Hier!«

Ich wandte mich um. Dass Lelei mir in den Wettkampf folgen könnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Doch da stand sie: Vor einer alten Hängebrücke, die über eine Schlucht hinweg zu dem entfernten, bewaldeten Plateau führte.

Ohne zu zögern, setzte ich mich in Bewegung, betrat die morschen Holzbalken, die bedenklich unter meinen Schuhen knarzten, und hangelte mich Stück für Stück vorwärts. Dabei konkurrierten meine Gedanken mit den tosenden Stromschnellen des Flusses am Fuße der Schlucht. Ich wusste weder wonach, noch wo ich überhaupt anfangen sollte, nach diesem Gegenstand zu suchen; er könnte überall und alles sein.

Aber es brachte nichts, sich jetzt verrückt zu machen. Irgendwo musste ich schließlich anfangen. Also folgte ich dem Pfad am Ende der Brücke, der mich direkt in den Wald führte. Die Welt versank in Zwielicht und die erdrückende Stille, welche über den schwarzroten Kronen der Ahornbäume lag, jagte mir Schauder das Rückgrat hinunter.

»Ich denke, ich habe etwas gefunden.« Lelei erschien an meiner Seite und brachte Licht in das Dunkel. »Komm mit.«

Der Tümpel, den sie entdeckt hatte, lag nur wenige Gehminuten entfernt. Farne und Moos umspielten die Wasseroberfläche, die sich mit dem Flüstern des Windes zu Bildern formte: Ein grünender Hain inmitten von hohen Gletschern. Die heißen Dämpfe einer Quelle. Eine Hütte.

Ich trat näher heran. »Spürst du das auch?« Alte Magie lag über diesem Ort und sie schien auf sonderbare Weise nach mir zu rufen. Ihrem Sog konnte ich mich nicht entziehen.

»Ja.«

»Ich werde hineingehen.« Kurzerhand beugte ich mich vor und sprang ins Wasser. Dann begann ich zu tauchen. Doch einen Grund erreichte ich nicht.

Da war ... nichts.

Aber da musste etwas sein. Ich spürte, dass dort etwas war.

Nachdem ich meine Lungen erneut mit Luft gefüllt hatte, tauchte ich abermals unter. Diesmal bewegte ich mich an den Rändern des Tümpels entlang und tastete mich so weiter in die Tiefe. Bis meine Hände plötzlich ins Leere griffen.

Eine Einkerbung? Oder sogar ein Tunnel?

Ich tauchte tiefer und ja: Es war ein Durchgang.

Kurzerhand schwamm ich hindurch und gelangte in die düsteren Gewölbe einer Höhle. Lediglich von einer einfachen Holzhütte, welche in den Felswänden verankert war, ging dumpfes Licht aus. Ich zog mich aus dem Wasser und hielt auf sie zu; soweit ich erkennen konnte, flankierten von Knorzen übersäte Baumstümpfe den Weg dorthin. Die Tür selbst war mit einem abgenutzten Riegel verschlossen, eine Inschrift prangte über ihr:

Aus Licht geboren. An die Welt verloren. Von Schatten erkoren.

Der Sog, den ich bereits zuvor gespürt hatte, wurde stärker und drängte mich geradewegs dazu, das Haus zu betreten. Ich hatte gar keine andere Wahl. Schon entfernte ich den Riegel und drehte den Türknauf. Mit einem Klick sprang die Tür auf und offenbarte das Zimmer dahinter.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt