Worte

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Farben. Lebendige, kräftige Farben, die das Grau der Schatten überdeckten und alles in einem neuen Licht erstrahlen ließen, holten mich Stück für Stück ins Leben zurück. Leichten Herzens schnappte ich mir eine der zusammengefalteten Hosen, die neben der Quelle lagen, und schlüpfte hinein. Wassertropfen perlten von meinen Haarspitzen, als ich rasch die Schnüre verknotete und hinüber zu dem feuerroten Mohn schaute, der auf einem Bündel weißer Tücher ruhte.

Cinora hatte nicht bemerkt, wie ich ihn heimlich auf unserem Rückweg aus der Zwischenwelt vom Wegesrand gepflückt hatte. Ich hoffte, ihr damit ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir ganz warm.

Deshalb griff ich kurzerhand nach der Blume, schob mit einer Hand den Seidenvorhang, welcher das Bad vom Rest meiner Gemächer abtrennte, beiseite und erstarrte. Cinora saß mit angewinkelten Beinen auf dem Boden und musterte einen flachen, dunkelblauen Stein, der vor ihr auf dem farbenfrohen Teppich lag.

»Was ist das?« Sie neigte den Kopf und sah zu mir auf.

Mir wurde anders. Das war Kianas Talisman, der Erinnerungsstein. Doch wie kam er ...? Hatte Cinora etwa nach ihm gesucht? Nein, das war unmöglich, sie konnte nichts von ihm wissen. »Wo hast du das her?« Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

»Er lag bereits da, als ich die Gemächer betreten habe.« Was ... Waren etwa meine Geschwister hier gewesen? Doch selbst wenn, sie würden niemals - »Gehört er dir?«

»Ja.«

Ehe ich mich versah, stand sie vor mir und streckte die geöffnete Handfläche, auf der nun der Stein ruhte, aus. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, dennoch zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Ich reagierte über. Es war alles in Ordnung.

Wortlos nahm ich den Talisman wieder an mich.

Dabei berührten sich unsere Fingerspitzen für den Bruchteil einer Sekunde, was dazu führte, dass ein Feuersturm in meinen Eingeweiden ausbrach, den auch Cinora zu spüren schien, denn sie zuckte zurück. Nacktes Entsetzen zeichnete ihre Miene.

Ich folgte ihrem Blick und -

Die Welt kam zum Stillstand und mit ihr mein Herz.

Die Mohnblüte segelte aus meiner Hand zu Boden, derweil die Überreste des Steins in Form von feinkörnigem Sandstaub durch meine Finger rannen. Der Talisman, er ...

Ein erstickter Laut verließ meine Lippen. Ich sank zu Boden.

Nein ...

Nein ...

Nein!

Mit zitternden Händen versuchte ich die Sandkörner aufzupicken, um das, was zerstört worden war, noch zu retten. Doch gleich, wie sehr ich mich bemühte, die Vergangenheit ließ sich nicht wieder zusammensetzen. Sie war verloren. Für immer.

Meine Gedanken verwandelten sich in einen tosenden Orkan, den nur das Rufen einer entfernten Stimme durchbrach. Ich hob den Kopf und zischte: »Komm nicht näher, Cinora! Was hast du getan?«

»N-nichts ...«

»Nichts?!« Ich richtete mich auf. »Du hast soeben das Letzte zerstört, was mir von Kiana noch geblieben war.«

»Ich wollte nicht ... Ich -«

»Dachtest du, damit würde meine Liebe einzig dir gehören?«

Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. »Nein, ich wusste nicht, dass das geschehen würde. Niemals hätte ich dann -«

»Was, namenloses Mädchen? Ist es nicht so, dass du alles tun würdest, um diesem dunklen Ort deiner Selbst zu entkommen? Einen stumpfsinnigen Handel einzugehen oder nach meiner Liebe zu lechzen, wird dir dabei jedoch nicht helfen. Die Dunkelheit wird nicht verschwinden und letzten Endes wirst du ganz auf dich allein gestellt sein. Niemand wird bei dir sein. Niemand, hörst du!« Ich biss mir auf die Zunge und ballte die Hände zu Fäusten. Sofort musste ich das Gesagte zurücknehmen. Es war falsch und ungerecht.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt