Kaltes Herz

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Die Erinnerungen an Kiana verwoben sich mit der Dunkelheit zu machtvollen Gebilden, in deren Angesicht die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verblassten. Doch gleich, wie sehnlichst ich meine Hand nach ihnen ausstreckte, ich vermochte nicht, sie festzuhalten. Sie glitten durch meine Finger wie feine Sandkörner.

Jede Erinnerung ein Konstrukt längst vergangener Zeit.

Jede Erinnerung ein Geschenk von unersetzbarem Wert.

Trübe, verwaschene Sonnenstrahlen blitzten zwischen den schweren Vorhängen meiner Gemächer hindurch und kündeten von einem neuen Morgen. Vor sehr langer Zeit hatte ich Kraft aus dem ersten Licht des Tages ziehen können. Doch das war längst vorbei.

Müßig schlug ich die Bettdecke beiseite und richtete mich auf. Mir war kotzübel. Es dauerte einige Minuten, bevor ich mich aus dem Bett erheben konnte und in das angrenzende Bad trottete. Dort wusch ich mir kurzerhand das tränenverkrustete Gesicht, nur um dann einen Blick in den Spiegel zu werfen, der mir ein erschreckendes Bild zeigte.

Martizian hatte recht gehabt, ich sah wirklich aus wie eine Leiche. Dunkle Schatten umrahmten meine Augen und meine Haut wirkte kränklich blass. Damit spiegelte mein Äußeres eins zu eins meinen inneren Seelenzustand wider. Ich fühlte mich elendig. Wenn ich so weitermachte, würde ich noch zugrunde gehen.

Wobei ...

Nein. Ich musste mich dem, was geschehen war, stellen. Und das bedeutete, mit meinen Geschwistern zu sprechen. Und mit Cinora.

Aus diesem Grund machte ich mich in Richtung des Nordflügels auf. Der Lesesaal wirkte nahezu unberührt, als ich dort eintraf, doch hinter den Türen des Studierzimmers waren Stimmen zu vernehmen. Wie ich vermutet hatte, hielten sich Martizian und Octavia hier auf.

Ich machte mir nicht die Mühe anzuklopfen, sondern drückte die Türklinke hinunter und trat ein. Octavia, die in einem Sessel entlang der bis unter die Decke reichenden Bücherwände saß und einen der Bände über die Magie der Reiche in Händen hielt, blickte kurz auf und lächelte verhalten. Martizian dagegen war so in das alte Manuskript vor sich auf dem massiven Eichentisch vertieft, dass er die Welt um sich herum komplett ausgeblendet hatte.

Unzählige Pergamentrollen und aufgeschlagene Bücher verteilten sich quer über den dunklen Dielenboden und verbargen unter ihren Seiten sogar den aus Abendlicht gewebten Teppich im Zentrum des Raums. Ich wünschte, ich besäße noch diesen unauslöschlichen Hoffnungsschimmer, den ich in den Herzen meiner Geschwister erkannte.

Doch in den ersten Jahrzehnten nach jener Nacht, die ich damit verbracht hatte, jedes einzelne Buch und Schriftstück in diesem Raum zu durchforsten – zunächst voller Zuversicht –, hatten mich letztlich Aussichtslosigkeit und Verzweiflung eingeholt und seither nicht mehr losgelassen.

In diesen Hallen würden wir keine Antworten finden, dessen war ich mir sicher; nichts wies darauf hin, wie und ob wir überhaupt den Bannkreis und die Ketten, die unsere Magie banden, durchbrechen könnten. Und zu den Bibliothekshöhlen, welche sich außerhalb der Schattenmauer befanden und von unserem Onkel Sistar – sollte er denn noch am Leben sein – verwaltet wurden, war uns der Zugang verwehrt. Womöglich enthielten sie die Lösung, nach der wir seit Jahren suchten.

Octavia neigte den Kopf und deutete zum gegenüberliegenden Ende des Saals. Dort führten Treppenstufen zu einer Art Terrasse hinauf, die von im Halbkreis angeordneten tief in das Mauerwerk eingelassenen Fenstern umschlossen war. In deren Mitte stand ein Kanapee, auf dem Cinora, mir den Rücken zugewandt saß, und nach draußen auf ein trostloses Meer aus Tannen schaute; die einstigen blühenden Dörfer und belebten Straßen unseres Reiches lagen darunter begraben.

»Das ist doch zum Verzweifeln ...« Aufgebracht schob Martizian die Pergamentrolle von sich und sank mit hängenden Schultern gegen die Stuhllehne.

Octavia reagierte zuerst. »Hast du etwas gefunden?«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt