Gestern ohne morgen

34 4 2
                                    

Als ich erwachte, war meine Schwester verschwunden. Mühsam richtete ich mich auf und legte den Talisman zurück in die Nachttischschublade. Nur langsam verblasste das Erinnerungsfragment an Kiana und hinterließ ein Sehnen, dem ich nicht gewachsen war. Schmerz nahm den Platz ein, den einst unsere Liebe innehatte – unendlicher, unerträglicher Schmerz. Er war mein steter Begleiter, mein Vertrauter. Die einzige Konstante in meinem erbärmlichen Leben.

Doch seit der Rückkehr aus der Unterstadt hatte sich etwas verändert – etwas, das ich mir nicht eingestehen wollte. Es hatte mit dieser menschlichen Seele zu tun, die ich ebenso wenig zu retten vermochte wie Kiana einst.

Kurzentschlossen schritt ich auf die schweren Gardinenvorhänge zu, riss sie auf und blickte nach draußen. Trübes Sonnenlicht schien durch die grauverhangene Wolkendecke, die über dem Anwesen lag, und gab unmissverständlich zu verstehen, dass bereits der nächste Tag angebrochen war. Die Tannen, die gut dreihundert Fuß von den Seitenfassaden des Palais entfernt aus der Erde ragten, stierten mir mahnend entgegen.

Sie riefen mir stets ins Gedächtnis, was sich auf diesem Grund und Boden zugetragen hatte. Eine Zukunft gab es seither nicht mehr. Nur eine Gegenwart, die von Dunkelheit überschattet war. Eines Tages, das hatte ich mir geschworen, würde sie für die Taten jener Nacht geradestehen müssen. Sie sollte selbst erfahren, was es hieß, alles zu verlieren.

»Und ich will dabei derjenige sein, der die Klinge der Vergeltung führt«, dachte ich, verließ meine Gemächer und steuerte auf den Nordflügel zu. Strikt hielt ich dabei den Kopf gesenkt und musterte die silbernen Ornamente, die sich unter meinen Füßen über den Boden schlängelten und dabei fast lebendig wirkten. Die Vergangenheit, welche in diesen Fluren in Form von unzähligen Wandmalereien lebte, ertrug ich nicht.

Am Ende des Gangs angekommen, gelangte ich in einen großräumigen Lesesaal, der mit allerlei Sitz- und Liegemöglichkeiten ausgestattet war. Zu meiner Linken führten Treppenstufen hinunter zu einem Balkon, von dem aus man den gesamten Innenhof überblicken konnte. Zu meiner Rechten lagen die schweren Holztüren des Studierzimmers; sie standen ein Stück weit offen, zudem glommen die Lichtkristalle an den Wänden schwach, was bedeutete, dass jemand hier sein musste.

»Martizian?«, rief ich.

Ein Rumpeln war zu hören, dann tauchte der silberne Schopf meines Bruders im Türrahmen auf. »Namir, wohin des Weges?«

Das wusste er doch. »Zur Grenze.«

Martizian nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt aber schon noch, dass wir zusammen dorthin gehen wollten?«

»Ja«, presste ich hervor. »Deshalb bin ich hier. Ist Octavia bei dir?«

Er schüttelte den Kopf. »Hör zu, sie hat erst vor zwei Stunden in den Schlaf gefunden. Lass uns gehen, wenn sie sich ein wenig ausgeruht hat, einverstanden?«

Ich biss mir auf die Zunge und unterdrückte eine Erwiderung, die unangemessen gewesen wäre. »Einverstanden.«

»Fein. In der Zwischenzeit«, mein Bruder rümpfte die Nase, »solltest du ein Bad nehmen.«

Ein Bad, ernsthaft? »Kein Bedarf.«

»Ich denke schon. Du stinkst. Ich rieche es bis hierher.«

»Tu ich nicht!« Tat ich doch. Es mussten die Überreste des Elixiers, mit dem die Hohepriesterin mir in der Unterstadt das Augenlicht genommen hatte, sein, die derart widerwärtig stanken. Obgleich das alles nur eine Illusion gewesen war, hatte es sich doch furchterregend echt angefühlt.

»Ich weiß, dass du weißt, dass ich recht habe.« Mit einem Augenzwinkern kehrte mir Martizian den Rücken zu und verschwand wieder hinter den hohen Pforten des Studierzimmers.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt