Über der Stadt

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Übelkeit, Schmerz und Trauer holten mich ein, zerrissen meine Seele, bis sie in Fetzen hing. Bilder rauschten vorbei, Erinnerungen. Ich empfand nichts als Leid – so unendliches Leid. »Hey, Namir!« Finger umfassten mein Kinn und hoben es an. »Erinnerst du dich an mich?«

Amethystfarbene Iriden, silbernes Haar und ein Lächeln, das selbst in die dunkelsten Tage Licht zaubern konnte. Wie könnte ich ihn vergessen? Martizian, meinen Bruder.

Doch genau das war geschehen.

Ein neues Leben fernab des Jochs der Vergangenheit hatte ich gesucht. Ein neues Leben hatte ich erhalten. Tholon war der Name, den man mir gegeben hatte. Tholon war derjenige, der ich die vergangenen fünf Jahre geglaubt hatte zu sein.

»Die Sternen mögen mir beistehen ...«, murmelte Octavia. Spitze Ohren lugten unter ihren zerzausten blonden Haaren hervor, als sie sich den Handrücken gegen die Stirn presste und versuchte, aufzustehen. Die ganze Zeit über hatte sie in der Unterstadt als Sedaria an meiner Seite gelebt, und ich hatte sie nicht erkannt, meine eigene Schwester. »Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.«

Martizian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Octavia entging das nicht. »Nicht komisch, Martizian!«

»Ich hab dich vermisst, Schwesterherz.« Er reichte ihr eine Hand, die Octavia jedoch geflissentlich ignorierte und sich stattdessen mir zuwandte. Eingehend musterte sie mein Gesicht und versuchte daraus Antworten, auf all ihre Fragen abzulesen. »Wie ... wie geht es dir?«

Den Trost des Vergessens hatte ich gesucht, ein Bad in einem See aus Unwissenheit. Ein Meer aus Blut holte mich nun jedoch zurück in die Wirklichkeit. Der Verlust und die Schuld, vor denen ich einst geflohen war, kehrten mit einer vernichtenden Intensität zurück. Ich unterdrückte den Impuls zu schreien und stemmte mich gegen die schwarzen Klauen, die mich immer tiefer in den Abgrund zerrten. »Du bist mir gefolgt.«

Die Augenwinkel meiner Schwester füllten sich mit Tränen. Tiefer und tiefer fiel meine Seele in ein schwarzes, kaltes Nichts. »Natürlich bin ich das!«

Martizian neigte den Kopf. »Es war riskant.«

»Es ging um Namir!«, entrüstete sich Octavia. »Unseren Bruder.«

»Ja, unser Bruder, der sich ohne ein Wort des Abschieds blindlings in das nächstbeste Sonnentor stürzt!« Mit ruhigerer Stimme fuhr er fort: »Wir haben tagelang nach dir gesucht, Namir, doch als wir dich nicht fanden, stand fest, dass du wohl einen Weg in die Stadt gefunden haben musstest.«

Ich schluckte. Seine Worte trafen mich hart, denn sie entsprachen der Wahrheit. Meine Tat glich einem Vertrauensbruch an meinen Geschwistern, meiner Familie. Es war ein Fehler gewesen, zu gehen, doch ... »Ich konnte es nicht länger ertragen«, wisperte ich, bevor meine Stimme versagte.

Stille legte sich über die Stadt der Tannen.

Betroffen senkte Martizian den Blick und Octavia wischte sich die Tränen von den Wangen. Dann richtete ich mich auf und suchte mir einen Weg durch das ewige, trostlose Grau dieses Waldes. Was von der Unterstadt aus lebendig und wunderschön gewirkt hatte, war in Wirklichkeit ein kaltes, dunkles Grab. Keine Göttin, die mit ihrer schützenden Hand über die Seelen wachte. Nur die turmhohen, blutenden Stämme der Tannen, die mit ihren Kronen hin zu der Stadt am Himmel zeigten, aus der ich gekommen war. In die ich geflohen war und die mich verstoßen hatte.

Mir wurde schlecht. Dabei war alles eine Lüge gewesen.

Es waren die Ruinen eines Anwesens, die kurze Zeit später meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Verlassen schraubten sie sich aus der unfruchtbaren Erde und reihten sich inmitten der grotesken Tannentürme ein. Ich wollte mich davon abwenden, doch konnte es nicht. Längst vergangene Erinnerungen drängten sich in meinen Geist. Einst hatte sich über diese Fläche ein prächtiger Garten erstreckt, Säulen, die kunstvolle Durchgänge stützten, und ein Balkon, der seinesgleichen suchte.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt