Licht und Finsternis

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Der Seelenritus. Jedes Manuskript, das ich in den vergangenen Stunden in Händen gehalten hatte, stand in irgendeinem Zusammenhang damit. Ich brauchte Antworten, denn das, was zwischen Ashra und mir geschehen war – wenn es das war, was ich dachte –, ergab keinen Sinn. Doch wie so oft fand ich nichts, was mich weiterbrachte.

»Was ...?«

Ihre Stimme ließ mich zusammenfahren. Sie war erwacht.

Umgehend schob ich die Bücherberge vor mir beiseite und stolperte auf Ashra zu, die sich im Bett aufrichtete und ihren Körper musterte, welcher von sanftem Licht umgeben war; genau wie mein eigener.

»Namir, du –«

Ich schüttelte den Kopf, setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. »Die Dinge, die ich zu dir gesagt, die ich dir vorgeworfen habe ... Ich war ungerecht und grausam. Bitte, verzeih mir.«

»Ich habe etwas zerstört, das dir viel bedeutet hat.« Sie zog ihre Hand zurück. »Dabei wollte ich das nie.«

»Ich weiß. Aber du hast nichts zerstört.«

»Nicht?«, wisperte sie unsicher.

»Nein.«

Ihr lag noch etwas auf der Zunge, doch Lelei machte sich bemerkbar und krabbelte über die Lakenberge hinweg. Bei Ashra angekommen, kugelte sie sich sofort zusammen und schmiegte ihr Köpfchen gegen ihre Handfläche.

Ashra presste die Lippen zusammen und streichelte dem Tiergeist über den Rücken. Tränen tropften auf die Bettdecke. »Du ...«, sie schniefte, »du hast mir einen Namen gegeben.«

»Du verdienst einen.«

Mit einem leisen Aufschrei wandte sie mir den Rücken zu, sank zurück in die Matratze und begann bitterlich zu weinen. Hilflosigkeit packte mich. Ashra so zu sehen, ertrug ich nicht. Deshalb flüsterte ich: »Was kann ich tun?«

Ihre Antwort erschütterte mich. »Würdest du ... dich zu mir legen?«

Ich zögerte. Dann verlagerte ich mein Gewicht und ließ mich auf die Kissen sinken. Minuten vergingen, bevor sie sich langsam umdrehte und Lelei zwischen uns setzte. Das Chamäleonweibchen hatte jedoch seinen eigenen Kopf, hielt auf einen der Bettpfosten zu und hangelte sich zu dem gestrickten Schlafbettchen vor, das sich unweit auf einem Stapel Bücher befand.

»Namir ...«

Ich riss mich von Lelei los und blickte in Ashras Augen. Die Schrecken der Vergangenheit loderten darin auf.

»Du musst nicht darüber reden«, erwiderte ich sanft.

Sie nickte. »Ich möchte es aber.«

»In Ordnung.« Kurzerhand hangelte ich nach einer der Wolldecken am Fußende und breitete sie über Ashras Schultern aus. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich bin hier und werde dir zuhören. Du bist nicht allein.«

Zaghaft lächelnd dankte sie mir. »Ich wurde in eine Welt geboren, die mich nicht haben wollte«, begann sie ihre Geschichte zu erzählen. »Das Dorf, in dem ich aufwuchs, lebte nach strengen Regeln und Bräuchen, doch allein meine Existenz stellte diese in Frage. Denn ich war das Kind eines Mannes, den meine Mutter niemals hätte lieben dürfen. Als Tochter des Dorfvorstehers war sie nämlich bereits einem anderen versprochen gewesen und hatte dementsprechend ihre Pflichten zu erfüllen.«

»Ich selbst habe meine Eltern nie kennengelernt. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt und mein Vater wurde, nachdem bekannt geworden war, welchen Frevel er begangen hatte, aus der Dorfgemeinschaft verstoßen. Die Eltern meiner Mutter nahmen mich in ihrem Haus auf, wo ich zwar geduldet, jedoch zeit meines Lebens nie gewollt gewesen war. Wie auch, schließlich hatte ich ihnen die einzige Tochter geraubt und nichts als Schande über die Familie gebracht. Mich auszusetzen oder sogar zu töten, hätte gegen die Gebote unserer Götter verstoßen, doch sie konnten mir Zugang zu Nahrung und Kleidung verwehren, weshalb ich schon recht früh lernen musste, selbst für mich zu sorgen.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now