Gedankenstürme

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Zwei Wochen später ...

Das Bild des Mädchens verblasste unter der spiegelglatten Oberfläche des Wassers. Ein letztes Mal sah ich in die strahlenden Augen der menschlichen Seele, bevor die Erinnerung sich zu den abertausenden Lichtern reihte, die zuckend und flirrend am Grund des Brunnens glimmten.

Die Regeln in unserem Reich waren klar und einfach: Als Obolus ließ jede Seele, nachdem der Fürst ihren Erinnerungen und damit ihrer Vergangenheit Gestalt verliehen hatte, einen Augenblick ihres Lebens hier zurück. Eine Perle, die in den Lebensbrunnen einfloss und dadurch die Magie und Macht des Reiches nährte.

Nicht mehr und nicht weniger.

Deshalb ...

Wut packte mich und ich sprang vom Brunnenrand. Die Anschuldigungen gegen Vater waren nichts als Lügen – nichts als Heimtücke und Verrat an der Aufgabe, die er innegehabt und stets gewissenhaft ausgeführt hatte.

Die Kiessteine unter meinen Schuhen knirschten, derweil ich den Brunnen umrundete und dabei einen Blick hinauf zum Nordflügel warf. Längst hatte sich die Nacht über das Anwesen gesenkt, doch die Lichtkristalle im Lesesaal strahlten taghell und warfen Schatten auf das Mauerwerk.

Octavia musste sich dort aufhalten. Für gewöhnlich war mein Bruder an ihrer Seite, mir war allerdings nicht entgangen, wie er – es musste vor knapp einer Stunde gewesen sein – durch das Südtor den Innenhof betreten hatte und auf den verschlungenen Wegen des Gartens verschwunden war.

Etwas stimmte nicht.

Gut, es stimmte vieles nicht. Doch Martizian hatte selbst aus der Ferne so verzweifelt gewirkt, wie ich ihn selten erlebt hatte.

Die Nachtblumen, die sich in kunstvoll arrangierten Formationen über den gesamten Innenhof erstreckten, schillerten in den kräftigsten Farben und strahlten in der Dunkelheit. Ich hatte nichts für dieses fluoreszierende Blumenmeer übrig, sondern hielt direkt auf einen der überdachten Pfade zu, der mich zu dem Ort führen würde, wo ich Martizian vermutete.

Zu häufig waren wir uns in letzter Zeit aus dem Weg gegangen. Nun gut ... Ich war ihm aus dem Weg gegangen. Mich derart von meinen Geschwistern abzuschotten war falsch, doch ich ... ich wusste nicht, wie ...

Hinter einer Staude aus Mondblüten bog ich ab und folgte weiter dem von Sternenlichtern benetzten Boden in Richtung Westen. Mehrere Abbiegungen später trat ich aus dem Schutz der Farne und Gewächse hinaus auf eine Wiesenfläche. Tränen tanzten auf den immergrünen Grasspitzen und führten hin zu einer alten Trauerweide. Unter ihrem silbernen Blätterkleid saß mein Bruder.

Niedergeschlagen sah er zu mir auf und versetzte damit meinem Herzen einen Stich. Kurzerhand steuerte ich auf die Weide zu, teilte den Blättervorhang und nahm neben Martizian auf der Steinbank Platz. Dabei vermied ich es geflissentlich, die bunten Bänder, die sich um den Stamm der Rinde hinter mir wanden, anzuschauen, denn sie erinnerten mich an meine Kindheit. An all das Glück, das wir erlebt hatten. An all die Liebe. Und an die große, schmerzende Leere, die zurückgeblieben war.

»Ich finde nichts«, begrüßte mich Martizian und vergrub resigniert den Kopf in seinen Händen. »Ich finde einfach keinen Ausweg.« Ein gequälter Seufzer zerschnitt die Nacht. »Ich habe versagt. Heute ... und damals.«

Nein. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schluckte. »Du hast nicht versagt.« Ich hatte versagt. Ich hätte meine Familie warnen müssen. Ich hätte handeln müssen, als es noch möglich gewesen war. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Martizian dagegen trug keinerlei Schuld.

»Sie sind tot.«

»Ja, wegen ihr!« Das kalte Feuer des Hasses versetzte meine Gedanken in Brand. Eines Tages würde die Nachtfürstin für das Verbrechen, das sie an meiner Familie begangen hatte, büßen. Ich würde Rache nehmen, das hatte ich mir geschworen.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now