Wolkenspiegel

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»Warte!« Ich stürmte Cinora in die Eingangshalle des Palais hinterher. Nichts hatte ich auf ihre rührenden Worte erwidert. Untätig hatte ich sie ziehen lassen und dabei mitangesehen, wie ihr Licht mit jedem Schritt weiter verblasst war. »Cinora, bitte!«

Am Ende des Treppenaufgangs hielt sie vor der schillernden Wand aus Spiegeln inne und drehte sich zu mir um. »Es ist in Ordnung, Namir.«

»Nein, ist es nicht.«

Der Gefühlssturm überwältigte mich, begrub mich unter sich. Ich musste weitersprechen. Ich musste ihr sagen, was ich in diesem Moment empfand. Doch konnte es nicht.

Cinora senkte den Kopf. »Ich gehe mich säubern.« Statt sich jedoch den Stufen hinauf zum Ostflügel zuzuwenden, näherte sie sich der Spiegelwand und musterte die filigranen Muster, die in die Rahmen eingeschnitzt waren. Sie schien zu warten.

Etwa ... auf mich?

Ich nahm all meinen Mut zusammen, jagte die Treppe hinauf und stand kurz darauf vor ihr. Kein Laut kam mir über die Lippen. Fesseln bannten meine Stimme. Jede Faser meines Körpers war bis zum Zerreißen angespannt.

Angst ergriff von mir Besitz, als ich nach Cinoras Hand tastete und sie sanft umfasste. Die Berührung löste einen Tornado in meinen Eingeweiden aus und versetzte meine Seele in einen Zustand, neben dem alles andere verblasste.

Ich schluckte und führte unsere verbundenen Hände zu meinem Herzen; die Mauern darum fielen auf einen Schlag. Die Dunkelheit dahinter lag nun frei und drohte alles zu verschlingen. Doch sie bestand nicht gegen den Lichtfunken, den Cinora mir schenkte.

Meine Finger verflochten sich mit ihren.

Ich wagte nicht, aufzusehen. Es war zu viel. Zu überwältigend.

Bis eine Träne meinen Handrücken benetzte und ich den Blick hob. Cinoras Miene glich einem verwüsteten Schlachtfeld. Schmerz und Hoffnung spiegelten sich darin wieder.

»Weine nicht, bitte«, wollte ich ihr zuflüstern. »Lass mich dir einen Teil der Last abnehmen. Lass mich bei dir sein.«

Ohne, dass ich es hätte vorhersehen können, zerbarsten mit einem Mal die Spiegel zu meiner Linken. Gleißendes Licht riss uns mit sich und entführte in eine andere Welt. Sobald sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, musste ich feststellen: Cinora war verschwunden.

Wie ...

Wabernde Nebelschwaden bauschten sich um mich herum auf. Es sollte uns nicht möglich sein, den Wolkensaal – den Ort, an dem der Fürst den menschlichen Erinnerungen Gestalt verlieh – zu betreten. Weder besaß ich die Magie des Fürsten, noch trug Cinora das Siegel der Memoria auf ihrer Haut.

Und ... wo war sie überhaupt? »Cinora?«, rief ich.

»Komm, sieh sie dir an«, flüsterte eine Frauenstimme; sie klang überglücklich und traurig zugleich. »Du bist Vater geworden.«

Ich nahm an, dass es sich um eine von Cinoras Erinnerungen handeln musste, bis mich die Worte meines Vaters eines Besseren belehrten. »Das ist ...« Er lachte. »Das ist unglaublich. Wie ist so etwas überhaupt möglich?«

Der Schrei eines Kindes hallte durch das weiße Wolkenmeer. »Ich hätte es selbst nie für möglich gehalten, Himarion. Aber es verändert alles.«

Die Erinnerung verlor sich.

Und ich mich mit ihr. Wie vom Blitz getroffen, stürzte ich zu Boden. Dornen bohrten sich in meinen Geist. Die Vergangenheit loderte auf. Die Dunkelheit. Der Schmerz.

»Nein!« Nicht jetzt. Nicht hier! Ich musste Cinora finden und dann –

Doch der Finsternis konnte ich nicht entkommen. Ketten legten sich um meinen Körper und zogen mich zurück in die Schrecken jener Nacht.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt