In den Wäldern

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Gedankenverloren schälte ich mit einem Küchenmesser die Kartoffel in meinen Händen, entsorgte die geringelte Schale und warf die gesäuberte Knolle in den blechernen Kochtopf neben mir zu den anderen. Grelles Licht schien durch das Fenster in die Kochstube und blendete mich. Womöglich wäre es ratsamer, meine Arbeit in einen schattigeren Winkel des Hauses zu verlagern, bevor ich mich noch verletzte, doch das war derzeit nebensächlich.

Alles war nebensächlich, was nicht Cinora betraf, die immerzu einen Weg in meine Gedanken suchte. Seit dem Gespräch im Tempel hatten weder sie noch ich ein Wort über die Bedeutung und Tragweite jenes Augenblicks verloren. Wir verhielten uns normal – so, wie man es von uns erwartete. Und doch hatte sich etwas verändert.

Ich verabscheute die Gleichgültigkeit, mit der ich Cinora begegnet war.

Das hatte sie nicht verdient. Sie vertraute mir ein Geheimnis an und brachte den Mut auf, mir zu gestehen, dass sie ... fühlte. Und ich Dummkopf verletzte sie.

Aber wie hätte ich denn reagieren sollen?

Niemals könnte ich mir verzeihen, wenn ihr etwas geschähe. Dafür bedeutete sie mir zu viel. Hatte ich mich etwa deshalb so verhalten? Aus Sorge und ... Angst, vor dem Schicksal, das ihr drohen würde? Oder aus Furcht, vor dem, was sich entwickeln könnte, wenn ich meine Gefühle zuließe.

Wie es wohl wäre, meine Finger sanft durch ihr Haar gleiten zu lassen? Sie in meine Arme zu schließen. Ihren Herzschlag nahe meinem zu spüren. Zwei Herzen im Einklang miteinander.

Schnaubend legte ich das Messer beiseite und stand abrupt auf, dabei kippte der Hocker, auf dem ich bis eben gesessen hatte, um und schlug polternd auf dem Boden auf.

So konnte es nicht weitergehen. Ich musste diesem Sturm, der in meinem Inneren tobte, ein Ende bereiten. Ja, vielleicht sollte ich mit Cinora sprechen, vielleicht sollte ich aber auch einfach alles vergessen. Sie hatte ein Leben in Frieden verdient.

Gefühle gefährdeten diesen Frieden, denn sie waren verräterisch und unberechenbar. Ein Fluch der Göttin.

Ich ging in die Hocke, sammelte die verstreuten Kartoffelschalen auf und entsorgte sie in dem dafür vorgesehenen Bottich. Kurz darauf erschien Mamar im Türrahmen, aus dem Korb in ihren Armen ragten einige Wildkräuter und Beeren hervor, die sie gesammelt hatte.

»Wila war gerade hier.« Joron tauchte hinter der Hausmutter auf und trat mit einem Kaninchen in den Händen durch die Tür; die Beute aus der wöchentlichen Jagd der Jägerinnen, mit der sie die Stadt versorgten. Augenblicklich landete der Kadaver auf der Tischplatte, bevor er nach einem der Messer hangelte und begann, das Tier zu häuten.

In Gedanken noch immer bei Cinora stellte ich den Topf mit den geschälten Kartoffeln neben dem toten Tier ab. »Braucht ihr mich noch?«

Joron sah nicht auf. »Momentan nicht. Was hast du vor?«

Es war kein Geheimnis, dass ich gelegentlich in die Wälder ging, um meine Fertigkeiten mit Pfeil und Bogen zu trainieren. Auch wenn mein Haus kein Verständnis für diese Art von Zeitvertreib zeigte, akzeptierten die Menschen, das, was ich tat – solange ich nicht unbefugt Wild erlegte. Aber das hatte ich ohnehin nicht vor. Ich ... brauchte nur einen Ort für mich, an dem ich in Ruhe nachdenken konnte. An dem ich eine Lösung für das Chaos in meinem Geist finden konnte. »Ich gehe in die Wälder.«

Mamar nickte. »Sei nur gegen Abend wieder zuhause. Wir werden mit dem Essen nicht auf dich warten.«

Mit Bogen und Köcher ausgestattet fand ich mich eine Stunde später vor zwei mächtigen Kiefernbäumen wieder. Ihre Kronen berührten fast die Tannen am Firmament und flankierten damit wie gigantische Riesen den Eingang zu den Wäldern. Silberne Garnfäden hingen an den Ästen und trugen die Weglichter, die jede Seele, mochte sie sich noch so sehr verirrt haben, nach Hause zurückführten.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt