Der Tanz des Lebens

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Drei Nächte später ...

Die Welt hatte an Bedeutung gewonnen. Sie erstrahlte in den schillerndsten Farben. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es sich so anfühlen würde. So intensiv. So echt.

Denn bei Cinora da ...

Da konnte ich, ich selbst sein. Frei und unverstellt.

Bedacht darauf keine Aufmerksamkeit zu erregen, richtete ich mich ein Stück weit von meinem Strohbett auf, stützte den Kopf in eine Hand und sah zu Cinora hinüber, die neben dem Dachfenster stand. Mondlicht umspielte ihre Silhouette, derweil sie sich die Haare zu einem Zopf flocht.

Ich musste schlucken. Alles zog mich zu ihr hin, doch die Gefahr, dass ich jemanden wecken könnte, wenn ich mich in ihre Nähe wagte, war zu groß. Lediglich Blicke und flüchtige Berührungen gestanden wir uns in der Anwesenheit anderer zu.

Es war mehr, als ich jemals zu träumen gewagt hatte.

Und dennoch sehnte ich mich danach, sie erneut in meinen Armen zu halten – so wie einst in den Wäldern.

Derart in Erinnerungen versunken, entging mir, dass Cinora ihre Position am Fenster verlassen hatte und nun vor mir kniete; der Stoff ihres schlichten, schwarzen Leinenkleides bauschte sich dabei um ihre Fußknöchel auf. Sie wusste genau, wohin sie treten musste, um keine der knarzenden Dielen zu erwischen – im Gegensatz zu mir.

Aber sie sollte nicht ...

Ich warf einen Blick über die Schulter. Die Frauen und Männer schliefen. Nur Sedarias Bett war zurechtgemacht und unberührt. Vermutlich wartete sie bereits vor dem Haus auf Cinora, um sich mit ihr in Richtung Tempel aufzumachen, wo die Demea das anstehende Ritual im Angesicht der Nacht – den heiligen Stunden der Göttin – vorbereiteten. Die übrigen Stadtbewohner dagegen würden sich erst im Morgengrauen auf den Feldern des Lebens zusammenfinden.

Unvermittelt beugte sich Cinora zu mir vor. Ihr Atem strich hauchzart über meine Haut, als sie sagte: »Ich werde dich erwählen.«

Was? Ich suchte in ihren Augen nach einer Erklärung für diese Worte. Meinte sie das ernst?

Ebenso leise erwiderte ich: »Wie?« Es oblag nicht ihr, darüber zu entscheiden.

»Ich werde einen Weg finden.«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Im Schutz der Dunkelheit griff ich nach ihrer Hand. »Tu nichts Unüberlegtes. Das ist es nicht wert.« Auch wenn mich der Gedanke, mit ihr zu tanzen, berauschte.

»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete sie, ihr Mundwinkel hob sich. »Die Göttin hat uns zusammengeführt, weshalb sollte sie uns nun trennen?« Flüchtig strich sie mir durchs Haar – eine Geste des Abschieds –, dann richtete sie sich auf und huschte hinaus in die Nacht.

...

Fünf Stunden später lehnte ich an einem der Pfeiler der Lagerhalle und musterte die Deckengewölbe über mir; sie erstreckten sich zu meiner Rechten über eine schier ungeheure Weite. Acht durch hölzerne Tore abgetrennte Speichersegmente reihten sich entlang der Hüttenwände auf – sie alle mussten heute neu befüllt werden.

Tageslicht fiel durch die bodentiefen Fenster und ließ den Staub der vergangenen Ernte, der wie feiner Nebel über den Boden waberte, silbern-schwarz schimmern. Kurz vor unserer Abreise hatte ich auch die Lebensmittel in unserer Vorratskammer zu ebendiesem Staub zerfallen gesehen. Die Zeit des Rituals war endgültig gekommen.

»Für welches Feld sind wir verantwortlich?« Joron kehrte mit einer Handvoll Sicheln vom anderen Ende der Halle zurück, wo die Erntewerkzeuge ausgegeben wurden. Odnar und Humir folgten ihm mit fünf geflochtenen Strohkörben in Händen.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now