Ein Leben in Ketten

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Mit einem Lächeln raffte die Nachtfürstin ihr seidenes Gewand und ließ sich auf eines der Kissen unter dem sonnendurchfluteten Kuppeldach des Linariums sinken. Farbkristalle schwirrten durch die Luft und umgaben die jungen Daija - sieben Söhne und fünf Töchter aus den unterschiedlichsten Fürstenfamilien -, die vor ihr auf dem Boden saßen und darauf warteten, dass Treya fortfuhr.

Mir wurde schlecht.

Sie lachte und strahlte. Dabei verdiente sie nichts davon. Das grüne Gras unter ihren nackten Füßen war eine Farce. Sie zerstörte Leben. Sie achtete es nicht!

»Hey«, flüsterte Xorian und warf mir von der Seite einen Blick zu. Ich ging nicht darauf ein. »Du machst ein Gesicht, als hätte man dich in den Abyss verdonnert. Ist alles in Ordnung?«

Ich unterdrückte eine abfällige Bemerkung.

»Gut«, Xorian zog den Kragen seiner Tunika, deren Mahagoniton mit seiner dunklen Haut harmonierte, zurecht, »dann nicht.« Er trug dasselbe goldene Mal auf der Stirn wie ich, was mir täglich vor Augen führte, dass wir dasselbe Schicksal teilten. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Sohn des Friedens den Palast und die Gesellschaft, welche dieser mit sich brachte, zu genießen schien.

»Wieso ist er ständig so ... fröhlich?«, erklang Leleis Stimme in meinem Kopf. Mit verschränkten Armen baute sie sich vor Xorian auf, was der Bündner jedoch nicht zur Kenntnis nahm. Niemand außer mir tat das.

Seit ich vor einem Mond nach dem Bund mit Treya hier im Palast erwacht war, weilte Lelei an meiner Seite. Dank ihrer Berichte hatte ich mir ein Bild von dem Anwesen machen können. Dank ihr wusste ich von Ashra und dem Schattentrakt.

»Sagt, aus welchen Reichen stammt ihr, Kinder?«, übertönte Treyas Stimme meine Gedanken.

Sofort reckte einer der Jungen die Hand. »Aus den Eislanden.«

Treya fasste in die Luft und wartete, bis die Farbkristalle ihr gehorchten und sich zu feinen Fäden formten, die sich sogleich um ihr Handgelenk wanden. Ein Zug daran genügte und der von Säulen gestützte Saal verwandelte sich in eine kalte Winterlandschaft.

In der Ferne schraubte sich ein gigantischer Gletscher, dessen Spitze den wolkenverhangenen Himmel streifte und drohte das Firmament zu zerschneiden, aus der Erde. Breite Stufen führten durch schwindelerregende Höhen hinauf zu einem gläsernen Palais - dem Herz des Reiches.

Im nächsten Augenblick verschob sich die Welt und gab die Sicht auf ein Tal frei. Unzählige erleuchtete Hütten reihten sich in der Senke, die von zwei mächtigen Gebirgen umgeben war, aneinander. Schnee stob durch die Luft und dicker Rauch qualmte aus den Schornsteinen. »Wisst ihr, was das hier ist?«

Der Junge antwortete: »Hier leben die Seelen, die sich zunächst von ihren negativen Bestrebungen befreien müssen, bevor sie bereit sind, weiterzuziehen. Sollten sie jedoch an ihren Dämonen festhalten, dann ...«

»Erstarren sie zu Eis«, führte die Nachtfürstin den Satz zu Ende. »Erst in tausend Jahren erhalten sie eine neue Chance auf das Leben.«

Die eisige Welt verblasste und wich einem von Sonnenblumen übersäten Feld. Strohhäuser tauchten am Horizont auf; ihre Dächer glitzerten golden in der heißen Sommerhitze. Sie lenkten den Blick hin zu einer uralten Weide, in deren Geästen sich ein Palais erhob, das seinesgleichen suchte.

Voller Schmerz erkannte ich: Das war Kianas Zuhause gewesen. Das Reich der Tränen. »Meine Mutter verhilft den geplagten Seelen zur Heilung, damit sie ihren Weg fortsetzen können«, erklärte ein junges Mädchen und klatschte in die Hände.

»Wie langweilig«, warf ein Sohn der Verdammnis ein. »Die Pein der Seelen kann durchaus amüsant sein.«

Auf seine Worte hin wandelte sich der Untergrund in eine von Finsternis getränkte Ebene. Dunkle Schemen zuckten unter der Oberfläche vorbei und gedämpfte Schreie zerschnitten die Luft. Handflächen pressten sich gegen unsichtbare Mauern und zu Fratzen verzerrte Gesichter leuchteten in der Dunkelheit auf. Das Palais ragte wie ein schwarzer Diamant aus diesem Meer aus Qualen auf. Türme und Zinnen umgab eine trostlose Aura, die Tore waren mit schweren Ketten versiegelt.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now