Ein Neuanfang

27 4 2
                                    

Xorian stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf in den Nacken. Sein Augenmerk galt der Morgendämmerung, die vom Ende der Nacht kündete und die weitläufige Wiesenlandschaft, in welche der Tempel eingebettet war, in sanftes Licht tauchte. »Das Gefüge der Welt hat sich verschoben.«

Octavia folgte seinem Blick und schnappte nach Luft, als sie die schillernden Farben am Firmament entdeckte. »Der Strom des Lebens«, hauchte sie. »Und das ...«, sie deutete auf den breiten Lichtstreifen, der sich quer über den Himmel bis hin zum fernen Horizont erstreckte, »die Nebelpassage.«

Meine Knie gaben unter mir nach.

Es war zu viel.

Es war alles zu viel.

Ashra fing mich auf; besorgt musterte sie mich.

Ihr zuliebe versuchte ich mich an einem Lächeln, doch ich schaffte es nicht. Die Anspannung und Last von Jahrzehnten fielen von meinen Schultern und hinterließen nichts als Erschöpfung.

Niemals würde ich Treya ihre Taten vergeben. Doch meine Seele verlangte nicht länger nach Rache, die sengenden Flammen waren verraucht und hatten nichts als Asche hinterlassen – ein Fundament, aus dem etwas Neues entstehen konnte.

Ich hatte Frieden gefunden. Frieden mit mir selbst.

Und das nicht, weil ich Treyas Taten entschuldigte, den Tod meiner Liebsten vergaß oder die Vergangenheit unter der Hoffnung auf eine bessere Zukunft begrub, sondern weil ich ... akzeptierte. Ich akzeptierte das, was geschehen war, so schmerzlich und grausam es auch war. Denn die Macht, die Vergangenheit zu ändern, hatte ich nicht. Das hatte niemand.

Was ich jedoch konnte, war die Ketten des Hasses und der Schuld, an die ich mich so verzweifelt geklammert hatte, loszulassen. Denn sie forderten – so erkannte ich nun – stets ihren Tribut:

Eine Seele. Ein Herz. Ein Leben.

Nichts davon war ich mehr bereit Treya wegen zu opfern.

»Du und Ashra tragt die Sterne unserer Heimat am Körper«, der Wächter ging vor uns in die Hocke. »Weißt du, was das bedeutet, Namir?«

»Ich ... nehme an, du wirst es mir gleich verraten.«

Xorian schmunzelte. »Ich wusste von dem Augenblick an, als wir uns zum ersten Mal begegneten, dass du ein Sternenkind bist.«

»Und da dachtest du nicht daran, mir das mitzuteilen?« Eine fast überschwängliche Heiterkeit packte mich.

»Jaa, so einfach ist es nicht gewesen.«

»Nicht?«

»Deine Kräfte waren noch nicht erwacht. Hätte ich dir verkündet, dass du ein Gott bist ...«

Ich lachte in mich hinein. »Ich hätte eine Dummheit begangen.«

»Genau das war mein Hintergedanke«, stimmte der Wächter zu, faltete die Hände und kam auf die silbernen Sterne zurück. »Nur wenigen aus unserem Volk wird die Ehre zuteil, von den Sternen selbst auserwählt zu werden.«

Okay ... »Das bedeutet?«

»Das bedeutet: Eure Seelen sind zu Großem bestimmt.«

»Wie dramatisch«, murmelte ich und brachte Ashra damit zum Lächeln. »Ich weiß nur eins, Xorian. Sie haben Ashra unsterblich gemacht.« Wie das überhaupt möglich war, sei einmal dahingestellt.

Die Mundwinkel des Wächters zuckten. »Das waren nicht die Sterne, Namir. Das warst du.«

»Ich?«

»Eure Liebe hat Unmögliches möglich gemacht. Es gibt keine Grenzen oder Ketten, die ihr Licht nicht brechen oder überwinden könnte.« An Ashra gewandt fuhr er fort: »Die Flamme hat dich zur neuen Hüterin erwählt. Das Jenseits obliegt nun deinen Händen.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt