Trümmerleuchten

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Die tadellosen Sandsteinstufen unter meinen Füßen, die hinauf zur Eingangshalle des Palais führten, verspotteten mich. Denn mit jedem Schritt erinnerten sie mich daran, wie falsch sich dieser Ort anfühlte. Wie falsch sich mein Zuhause anfühlte.

Das Reich lag in Trümmern. Mein Vater, meine Schwestern und die Frau, die ich liebte, waren tot. Und doch schien warmes, einladendes Licht durch die gläsernen Pforten am Ende der Treppe und offenbarte den gewaltigen Kuppelsaal dahinter: Edle Holzvertäfelungen säumten die Wände und indioblaue Säulen schraubten sich aus einem mosaikgespickten Fliesenteppich in die Höhe, um die mächtigen Deckengewölbe zu stützen. Perfekt und makellos.

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»Ihr kriegt mich nicht!«, gluckse ich und husche zwischen den Säulen hindurch. Die weißen Kreidestriche, die ich hinter einer der Wandnischen versteckt auf das dunkle Holz der Wände gezeichnet habe, ziehen mich wie immer magisch an. Und wie immer schnaube ich resigniert, als mein Blick auf die letzte Markierung fällt.

»Dort drüben ist er«, schallert Maianas Stimme durch den Saal.

Ihr folgt ein Kichern, das nur Octavia gehören kann. »Du wirst nicht größer, egal, wie oft du dir diese Striche noch ansiehst.«

Ertappt wirbele ich herum. Woher weiß sie von meinem Geheimnis? Niemand sollte davon erfahren, daher achte ich stets darauf, unbeobachtet zu sein, wenn ich neue Markierungen vornehme.

Octavia lugt hinter einer der Säulen hervor und grinst. »Mach dir nichts draus. Bestimmt wirst du eines Tages größer als Maiana und ich zusammen.«

Ich verenge die Augen, nicht gewillt, mir anmerken zu lassen, wie sehr mir ihre Worte zu schaffen machen. Die Frustration über meine Körpergröße sitzt tief. Maiana und Octavia überragen mich bereits bei weitem, während ich noch derart nah am Boden gebaut bin, dass ich mich ebenso gut kriechend fortbewegen könnte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, murre ich und verschränke die Arme vor der Brust.

»Drei ...« Octavias Mundwinkel heben sich. »Zwei ...«

»Eins!« Wie aus dem Nichts steht plötzlich Maiana hinter mir.

Und da erst begreife ich: Octavias Sticheleien sollten der Ablenkung dienen, damit sich unsere Schwester unbemerkt an mich heranschleichen kann. Nun ist es zu spät, ihr noch zu entkommen. Schon schlingen sich Arme um meinen Oberkörper und ihre Stimme säuselt: »Hab dich.«

»Ihr ...« Das kann ich nicht so auf mir sitzen lassen.

Unschuldig zuckt Octavia mit den Schultern und lächelt so breit, dass die zwischen den Deckengewölben schwebenden Lichtkristalle blass dagegen wirken. »Jetzt bin ich dran. Versucht mich zu fangen!« Schlagartig kehrt sie uns den Rücken zu und jagt davon.

Maiana stürmt ihr sogleich hinterher und auch ich zögere nicht lange, biege um die Ecke und ... stoße mit jemandem zusammen.

Prompt lande ich auf meinem Allerwertesten und blinzele gegen den anschwellenden, stechenden Schmerz in meiner Stirn an. Ich ... ich war den Tränen nah, doch ... Nein! Ich schüttle den Kopf. Ich werde nicht weinen! Nicht vor meinem Bruder.

»Namir ...« Mit schmerzverzerrtem Gesicht fasst sich Martizian an die Seite, geht in die Hocke und streckt eine Hand aus. »Lass mich mal sehen. Du hast dir wehgetan, oder?«

Ich zwinge mich, die Augen offenzuhalten. Keine Träne wird den Weg über meine Wangen finden. »Ich bin ein Sohn der Abenddämmerung. Wir zeigen keinen Schmerz.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt