Von Bruder zu Bruder

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Es war mitten in der Nacht, doch ich fand keine Ruhe. Nach der Rückkehr aus dem Reich der Tränen ließen mich Isras Worte und die Tragweite, die sie mit sich brachten, nicht mehr los. Sie stellten mein ganzes Weltbild auf den Kopf. Erneut. Denn wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dann ...

Rastlos drehte ich mich auf die Seite und sah zu Xorians unberührtem Bett hinüber. Seine Reise ins Reich der Verdammnis dauerte augenscheinlich länger an als gedacht. Hieß das womöglich etwas Gutes? Hatte er Ayert gefunden?

Das leise Knarzen von Holz ließ mich zusammenzucken. Abrupt fuhr ich hoch, konnte im trüben Zwielicht jedoch nur einen dunklen Schatten ausmachen, der auf mich zuhielt. »Uns ist niemand gefolgt«, hörte ich Lelei sagen.

»Ashra?«

Stürmisch fiel sie mir in die Arme und krallte sich mit pochendem Herzen im Stoff meiner Tunika fest, fast so, als hätte sie Angst, ich würde verschwinden; sie zitterte am ganzen Körper.

»Ashra, was ist passiert?« Ich rechnete mit dem Schlimmsten.

»Ich habe geträumt«, brummte sie gegen meine Brust. »Ich ... ich habe dich sterben sehen und ... konnte nichts dagegen tun. Nichts ...«

Liebevoll strich ich ihr übers Haar. »Es war nur ein Traum.«

Sie schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. »Es fühlte sich so real an. Meine Seele und mein Herz starben mit dir. Ich konnte nicht mehr atmen, ich ...«

»Sieh mich an«, raunte ich und hob sanft ihr Kinn an. »Ich bin hier.«

»Ich habe Angst, Namir.«

»Das brauchst du nicht. Ich bin an deiner Seite. Und werde es sein, solange du mich lässt.«

Ihr zaghaftes Lächeln erhellte die Finsternis. »Das kannst du nicht versprechen.«

»Ich kann und ich werde«, entgegnete ich und brachte meine Lippen nah an ihre Ohrmuschel. »Mein Herz ruht in deinen Händen, Ashra, und solange du es hältst, kann nichts auf der Welt mir schaden.«

»Träumer«, nuschelte sie gegen meinen Hemdsaum.

Ich musste schmunzeln. Wir wussten beide, dass es leere Versprechungen waren, die ich machte. Niemand hatte Macht über den Tod. Doch ich mochte verdammt sein, wenn ich Ashra nicht zumindest mit Worten Trost spenden konnte. »Dein treu ergebener Träumer.«

Sie lächelte – diesmal aus ganzem Herzen.

»Da ist noch etwas ...«, schaltete sich Lelei dazwischen.

Ashra nickte und löste sich von mir. »Lelei hat es heute in einem der Lichtsäle entdeckt. Eine Unregelmäßigkeit im Mauerwerk. Die Konturen der Wand verschwimmen an dieser Stelle regelrecht ineinander. Es ist merkwürdig ...«

Ich horchte auf. »So als läge eine Illusion darauf?«

»Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht.«

Lelei fügte hinzu: »Ich habe versucht hindurchzugelangen, um zu sehen, ob etwas dahinterliegt, aber ...«

»Es gelang dir nicht.«

»Nein.«

»Meinst du, es könnte ...?«, fragte Ashra und sah zu mir auf.

Womöglich. »Zeigt es mir.«

...

Über den Gewölben des Schattentraktes lag eine unheilvolle Aura. Die Träume mochten weiterhin schillernd hinter den Erkerfenstern flackern, doch all ihr Licht konnte nicht die Dunkelheit vertreiben, die sich mit kalten Klauen in meine Eingeweide grub.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt