Für eine Zukunft

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Ruhelos tigerte ich durch die Gemächer und wartete auf Leleis Rückkehr. Es waren erst drei Stunden vergangen, seit die Nachtfürstin das Fest für beendet erklärt hatte und die Fürstenfamilien in ihre Reiche zurückgekehrt waren, doch mir kamen diese Stunden wie eine Ewigkeit vor, jetzt, da ich die Zukunft in Händen hielt.

Mein Blick wanderte zu Xorians Schlafplatz. Nach den Festlichkeiten war der Bündner spurlos verschwunden und seither nicht mehr aufgetaucht. Dabei hatte ich Fragen – zu viele, als dass Zeit bliebe, sie alle zu stellen.

Aufgewühlt stützte ich mich mit den Händen auf der Platte des Nussbaumtisches ab. Xorian hatte uns geholfen – Ashra und mir – und er tat es weiterhin. Die Illusion der Ketten und das Mal auf meiner Stirn wirkten so echt, dass nicht einmal die Nachtfürstin hinter die Maske, welche die Wahrheit verhüllte, zu schauen vermochte. Dass der Bünder solche Macht besaß ...

Ein leises Schluchzen riss mich aus meinen Gedanken. Die Luft schwirrte und gab Leleis durchscheinende Gestalt preis. Tränenbäche rannen über ihre Wangen, ihre Unterlippe zitterte. »Namir ... sie ...« Mit bebenden Schultern sank sie in sich zusammen.

»Bei den Sternen, Lelei, was ist geschehen?«

»Sie kann mich sehen. Ashra ... Ashra kann mich sehen.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Und sie weiß, wer ich bin. Wir haben miteinander gesprochen und ...« Sie holte tief Luft. »Ich hätte nicht gedacht, dass mir das Schicksal jemals diesen Moment des Glücks zugestehen würde.«

Behutsam ging ich neben ihr in die Hocke. »Wie hat sie reagiert?« Nichts täte ich lieber, als Lelei nun eine Hand zu reichen, doch alles, was ich zu fassen bekäme, wären dunstige Nebelschwaden.

»Ich war nicht für sie da, Namir. Sie hat mich so schmerzlich vermisst. All die Jahre war sie ... so allein. Ich habe sie im Stich gelassen.«

»Sag so etwas nicht. Der Tod hat dich ihr entrissen, es lag nicht in deiner Macht.«

Den Kopf schüttelnd erwiderte sie: »Ich hätte stärker sein müssen, hätte für das Leben kämpfen müssen, für sie. Sie ist doch mein Kind, wie konnte ich sie nur mutterseelenallein in dieser grausamen Welt zurücklassen.«

Wie Messerstiche bohrte sich Leleis Schmerz in mein Herz. »Hör mir zu«, flüsterte ich und fing ihre buntschimmernden Tränen mit den Fingerkuppen auf, bevor sie in weißem Nebel zerstoben. »Du trägst keine Schuld.«

Vier Worte, die so viel Gewicht trugen.

Sie hob den Blick und sagte: »Du ebenso wenig.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Bilder des Schattengerichts stahlen sich in meinen Geist. Nein. Wenn ich Kiana an jenem Tag nicht die Stillen Flüsse hätte zeigen wollen, dann würde sie noch leben. Wenn ich meine Geschwister und Vater rechtzeitig gewarnt hätte, vielleicht ...

Lelei sagte etwas, das mich zurück in die Gegenwart holte.

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was?!«

...

Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Eingang zum Schattentrakt. Steinerne Stufen führten die Wände hinauf und endeten in Dunkelheit, zähflüssig quoll sie über den Rand der Brüstung und hinterließ einen schwarzen Film auf dem Mauerwerk. Nachdem Lelei mir das Zeichen gegeben hatte, dass die Luft rein war, hastete ich die Treppenstufen hinauf und trat durch die Pforten.

Vor mir erstreckte sich ein Korridor, dessen Wände unzählige Erker zierten. Hinter manchen Fenstern schwirrten Farben, hinter anderen waberte eine erdrückende Gräue. Die Träume der Menschen – in Erfüllung gegangene und solche, die auf ewig unerfüllt bleiben würden –, schwirrten wie Irrlichter um mich herum.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now