In den Gärten

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»Die Aussicht ist wirklich atemberaubend«, seufzte Nelma und fläzte sich zwischen die sonnengelben Kissen, welche den Boden des ausladenden Pavillons bedeckten. Ich folgte dem Blick der Frau, die sich selbst als Freundin der Nachtfürstin bezeichnete und versuchte, Schönheit in den Orchideen, den mosaikbespickten Wasserbecken und den blumengesäumten Durchgängen, welche die Gärten miteinander verbanden, zu sehen. Doch ich konnte nicht.

Nur eine Armlänge entfernt, saß sie: Treya. Alles an ihr kündete von Unschuld und Güte, von dem verspielten himmelblauen Kleid, das sie trug, bis hin zu ihren Lippen, die zu einem lieblichen Lächeln verzogen hatten. »Ja, die Gärten sind wahrlich ein Wunder.«

Hass infiltrierte mein Denken. Nichts wollte ich mehr, als die Nachtfürstin von ihrem lächerlichen Thron aus aufgehäuften Kissen zu stoßen, sie an ihren geliebten Zöpfen quer durch den Garten zu einem der Wasserbecken schleifen und sie dort einen Bruchteil des Schmerzes spüren zu lassen, den ich tagtäglich ertragen musste.

Aber ich war am Ende meiner Kräfte. Lelei hatte recht, wenn ich so weitermachte, dann würde ich daran zugrunde gehen – eine Möglichkeit, die ich unter anderen Umständen durchaus in Betracht gezogen hätte.

»Ich weiß nicht«, schaltete sich Luyan, Nelmas Bruder, dazwischen. »Die Wächter ... beunruhigen mich.« Mit dem Kopf deutete er in Richtung der drei steinernen Figuren, die die Eingangspforten des Palastes flankierten. »Es kommt einem fast so vor, als würden sie einen beobachten.«

Treya erwiderte: »Tun sie das nicht auch?«

»Es ist nur eine Legende, die man kleinen Kinder erzählt«, stellte Luyan klar und band sich die blutroten Haare zu einem Zopf zusammen.

»Macht sie das minder lebendig?« Sichtlich amüsiert richtete sich Xorian ein Stück auf und stützte sich auf einem Unterarm ab. Die Unbeschwertheit, mit der er sich in diese Gesellschaft fügte, fachte die Flammen der Wut in mir weiter an. »Geschichten leben dadurch, dass sie erzählt werden.«

Luyans Mundwinkel zuckte. »Es sind und bleiben dennoch Geschichten.«

Bevor Xorian etwas erwidern konnte, ergriff Nelma das Wort und klimperte kokett mit den Wimpern: »Würdest du sie uns erzählen?« Ihre Zuneigung für den Bündner war nicht zu übersehen. Xorians Interesse dagegen schien voll und ganz Luyan zu gelten.

»Die Legende?«

»Ja.«

»Nun gut«, räusperte er sich. »Sie handelt von drei Brüdern, die einst als Fremde auf die Erde kamen. Der eine in Gestalt eines Tigers, der andere als Eule und der dritte wiederum in der Gestalt eines Fuchses.« Der Bündner machte eine Pause. »Den Rest der Geschichte kennt ihr ja.«

Nelma protestierte, rutschte näher zu Xorian und pickte ihn in den Arm. »Erzähl weiter!«

Der Sohn des Friedens stieß ein kehliges Lachen aus. »Okay, okay. Aber nur, weil du mich so nett fragst.« Sofort begannen Nelmas Wangen zu glühen.

Ich ertrug dieses Geplänkel nicht länger. Ich wollte nur hier fort. Ganz. Weit. Fort.

»Die Brüder sahen es als ihre Aufgabe an, der Erde das Geschenk des Lebens zu machen. Dafür nahmen sie in Kauf, dass sich ihre Wege trennten. So ging der Fuchs stets voraus und erschuf Leben aus Holz, Wasser, Feuer und Wind. Der zweite Bruder, der Tiger, folgte seinem Pfad und schenkte jedem Lebewesen ein unsterbliches Leben. Der dritte Bruder schließlich wachte über das erschaffene Werk seiner Geschwister und verlieh jedem Wesen einen Geist, ein Gewissen.«

»So verging Jahrzehnt für Jahrzehnt, bis den Fuchs eines Nachts die Kräfte verließen. Nach Jahrhunderten des Herumwanderns sehnte er sich nach seinen Brüdern, seiner Heimat und nach seinem Volk, das in den Sternen zuhause war. Gemeinsam mit seinen Geschwistern, auf deren Ankunft er in einem Steinbruch gewartet hatte, beschloss er deshalb, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Dies erforderte jedoch ein Opfer.«

Tannengold - Die Erben des JenseitsOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz