Jenseits der Zeit

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Blindlings stolperte ich durch graue Nebelfelder; das weiße Wolkenmeer von zuvor war ihnen gewichen. Die Nebelschwaden waren so undurchdringlich, dass ich nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte.

Ich hatte kein Ziel, folgte keinem Weg.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmolzen zu einem einzigen qualvollen Gebilde, das sich in den Weiten des Nichts verlor. Und dennoch tat ich einen Schritt vor den anderen. Keine Aussicht, die Kälte in meinem Herzen jemals zu vertreiben. Die Gewissheit, Ashra verloren zu haben ...

Meine Schuhspitze stieß gegen etwas Festes.

Benommen hob ich den Kopf und sah mich einer Art Mauer gegenüberstehen. Der Nebel wich vor ihr zurück, weshalb ich die dunkelroten Rosenranken, die sich in schier endlose Höhen und Weiten erstreckten, deutlich erkennen konnte.

Wie in Trance streckte ich eine Hand aus und berührte die zarten Blütenblätter. Über den Sturm der Gefühle, der daraufhin über mich hereinbrach, hatte ich keine Kontrolle.

Ashra, mein Sternenlicht ...

Sie war fort ...

Für immer.

Schmerzlich wich ich zurück und wandte mich von der Wand aus Rosen ab. Der Tod hätte mich an ihrer statt holen sollen. Sie hätte glücklich werden sollen. Sie hätte leben sollen. Was gäbe ich dafür –

»Hallo? Ist hier jemand?«

Ich schaute auf. Was ...

W-war das wirklich ihre Stimme gewesen?

Das Geflecht aus Rosen und Dornen war so dicht, dass es praktisch unmöglich war, einen Blick hindurchzuwerfen. Und dennoch hämmerte mein Herz wild gegen meinen Brustkorb und zog mich näher heran. »A-Ashra?«, rief ich erstickt.

Ich zweifelte schon an meinen Sinnen.

»Namir?! Bist du das wirklich?«

Übelkeit ließ mich wanken.

Sie ...

Sie lebte!

Das Einzige, was uns trennte, war diese Mauer. Meine Gedanken rasten. Unruhig blickte ich nach links, ihre Stimme war aus dieser Richtung gekommen.

»Ich bin es«, sagte ich laut und schluckte. Ich musste zu ihr. »Sprich mit mir, Ashra«, fuhr ich deshalb fort und setzte mich langsam in Bewegung. »Erzähl ... erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß.«

Ein leises Schniefen war zu hören. »Du weißt doch schon alles.«

»Ist das so?«

Sie zögerte. »Oh, warte ... Damals in der Unterstadt, erinnerst du dich an die grüne Tunika, die du immer so gerne getragen hattest und die aber eines Tages spurlos verschwunden war?«

»Ja.« Ich folgte weiter ihrer Stimme. »Sie ist nie wieder aufgetaucht. Ein tragisches Schicksal muss sie ereilt haben.«

»Genau genommen ...«, sprach Ashra weiter, »habe ich sie dir stibitzt.«

Ich musste lächeln: »Was?! Wieso?«

»Hm ...«, grummelte sie. »Das ist mir peinlich.«

»Erzähl mir davon.«

Seufzend gab sie meiner Bitte nach. »Wenn ich nachts einsam war und mich nach deiner Nähe gesehnt habe, habe ich sie immer an mich gedrückt und mir vorgestellt, dass du es wärst, den ich in Armen halte.«

Abrupt stoppte ich. Hier!

»Du hättest mich nur zu fragen brauchen, dann hätte ich sie dir freiwillig gegeben«, flüsterte ich.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now