Schatten der Vergangenheit

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Martizian lächelt mir aufmunternd zu. Mein Bruder scheint sich in dem aufwendig gearbeiteten Gewand, das durch unzählige Schnüre und Knoten zusammengehalten wird, sichtlich wohlzufühlen. Dasselbe kann ich von mir nicht behaupten, der azurblaue Stoff spannt unangenehm auf meiner Haut und treibt meine Nervosität nur noch weiter in die Höhe.

»Ich erinnere mich noch an meine erste Versammlung«, ergreift Akton das Wort und wirft mir einen Blick über die Schulter zu; seine schneeweißen Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, der ihm bis zur Taille reicht. Schalk blitzt hinter seinen saphirblauen Augen auf. »Die Gesellschaft ist seit jeher ... amüsant gewesen.«

Martizian unterdrückt ein Schnauben. »Tu mir einen Gefallen, Bruder, und halte deine Ausschweifungen diesmal im Zaum.«

»Keine Chance, Bruderherz«, entgegnet dieser lachend. »Mir bleiben lediglich drei Tage alle zehn Jahre, in denen ich das weibliche Geschlecht verzücken kann. Daher werde ich mich nicht zurückhalten.«

Übelkeit setzt sich in meiner Kehle fest. Am heutigen Tag werde ich zum ersten Mal das Reich der Abenddämmerung verlassen, um an der Ratsversammlung im Nachtpalast – dem Zentrum des Jenseits – teilzunehmen. Das Beiwohnen der Versammlung ist dabei eine Sache, doch im Anschluss daran ist es den Fürstenkindern gestattet ungeachtet der geltenden Gesetze, sich jeglichem Vergnügen hinzugeben. Und ... ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu schon bereit bin.

Hastig verdränge ich den Gedanken daran und sehe zu Octavia hinüber, die an den Bändern ihres Kleides nestelt; Maiana an ihrer Seite zwirbelt eine ihrer roten Locken zwischen den Fingern. Unsere Blicke treffen sich. Auch sie verlassen heute das erste Mal unser Zuhause. Die Nervosität steht uns dreien sichtlich ins Gesicht geschrieben.

Akton ist schließlich der Erste, der durch das gleißende Portaltor tritt, das im Vorhof des Palais erschienen ist. Martizian folgt ihm. Dann bin ich an der Reihe.

Angespannt mustere ich die Sternenkonstellationen auf dem nachtblauen Marmor unter meinen Füßen. Angst lähmt meinen Körper. Ich kann das nicht ... Ich bin doch gerade einmal hundertfünfzig Jahre alt.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich schrecke auf. Sogleich begegne ich dem von wilden, dunklen Locken umrahmten Lächeln meines Vaters. »Mach dir nicht so viele Gedanken.« Ich schlucke. Leichter gesagt als getan. »Erinnerst du dich noch an unsere Familienmaxime?«

Maiana erwidert: »Wie könnten wir die vergessen, Papa.«

»Gemeinsam sind wir stark«, murmle ich.

»Gemeinsam sind wir stark«, wiederholt Vater die Worte und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Wir sind an deiner Seite, dir kann nichts geschehen, Namir.«

Peinlich berührt, nicke ich und löse mich von meiner Familie.

In Ordnung ...

Ich kann das ...

Augen zu und durch.

Mit gesenktem Kopf durchquere ich die Portalpforte. Feine ... Regentropfen – so fühlt es sich zumindest an – benetzen meine Haut. Ich wage aber nicht, die Augen zu öffnen, um meine Vermutung zu überprüfen. Erst als ich Stimmen vernehme und das wattige Gefühl, das meinen Körper umgibt, verschwindet, beginne ich unsicher zu blinzeln.

Der Anblick, welcher sich mir daraufhin zeigt, stellt alles in den Schatten, was ich mir vorzustellen gewagt habe. Abertausende Spiegel reihen sich die Wände des kreisrunden Saals entlang, in dem ich mich nun befinde. Weitere Spiegelsplitter hängen an Lichtfäden von den gewaltigen Deckengewölben und brechen das durch Buntglasfenster hereinbrechende Sonnenlicht. Der Boden wiederum ist aus weißem Marmor beschaffen, auf dem sich Kissenberge und Decken türmen und die ankommenden Fürstenfamilien willkommen heißen.

Tannengold - Die Erben des JenseitsWhere stories live. Discover now