Kapitel 1.

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Die Musik dröhnte in meinen Ohren. Ich habe sie auf volle Lautstärke gedreht. Ich kann nichts anderes mehr hören, außer die Musik – keine Autos, keine Tiere, keine Menschen. Ich konzentriere mich ganz auf meine gleichmäßigen Schritte und die Bewegung meiner Arme. Ich setze einen Fuß vor den anderen und merke dabei gar nicht, dass ich immer schneller werde. Aber es fühlt sich gut an. Die schnellen Bewegungen, die mich immer weiter nach vorne bringen. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt und ich stärker atmen muss. Meine Lunge schmerzt und alles in mir schreit nach einer Pause. Aber trotzdem laufe ich weiter. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Blei und es kostet mich eine Menge Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich schaue nur noch auf den Boden vor mir und lasse mich von nichts und niemandem ablenken. Ich bin ganz versunken in meine eigenen Bewegungen. Je weiter ich laufe, desto mehr verblasst der Schmerz. Nicht nur die körperlichen Schmerzen, nein, auch die psychischen Schmerzen, die mich in letzter Zeit so geplagt hatten. Alles vor meinen Augen verschwimmt langsam, ich sehe keine klaren Umrisse mehr. Ich spüre meinen Körper kaum noch, weiß nur noch, dass ich renne. Ich spüre nichts mehr…

Und dann merke ich, wie ich über etwas stolpere. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich falle. Ich schlage auf und plötzlich spüre ich alles wieder – mein ganzer Körper brennt, mein Herz klopft so stark, dass ich mir Sorgen machen müsste, dass es nicht herausspringt, aber ich denke gar nichts. Ich spüre nur den Schmerz, den Liam mir zugefügt hatte. Vor meinem inneren Auge blitzen Bilder auf: wie er mich in den Arm nimmt, als ich mit 12 Jahren über eine 6 in Mathe geweint habe, wie wir mit verschlungenen Händen durch die Stadt laufen, als ich im Park gestürzt bin, zieht er mich wieder hoch, wie ich ihn tröste, als sein Vater ihn verlassen hatte. Und dann taucht plötzlich ein Bild auf, das ich schon tausendmal gesehen habe: Es ist fast ganz dunkel um uns herum. Nur durch eine Straßenlaterne ein paar Meter weiter sehe ich sein Gesicht, das trotz der Enttäuschung immer noch freundlich aussieht. Ich stehe mit verschränkten Armen vor ihm und schaue ihm in die Augen. Ich versuche ihn abzuschätzen. Was wird er als nächstes tun? Ich bin mir sicher, dass er ruhig bleiben wird. Er ist nicht so wie sein Vater, Liam ist immer gelassen und ausgeglichen. Deshalb liebe ich ihn ja so. Ich versuche ihn zur Aufmunterung anzulächeln und mir gelingt schließlich auch ein kurzes Lächeln.

„Willst du es dir noch einmal überlegen?“, fragt er ganz ruhig, wie ich es erwartet hatte.

„Nein“, antworte ich in einem bemüht freundlichen Ton und lächle kurz. „Ich bin mir ganz sicher.“ Ich schaue ihm nochmal tief in seine schönen Augen, dann sage ich: „Es tut mir Leid, Liam. Ich … muss jetzt wirklich gehen … mein Vater wartet schon.“ Plötzlich habe ich das Verlangen, schnell zu verschwinden, um dieser peinlichen Situation zu entgehen.

Ich gehe auf ihn zu, will ihn zum Abschied umarmen.

Doch er macht einen Schritt zurück. Seine Miene wird plötzlich hart und seine Augen bekommen eine kalte, abweisende Farbe. Ich erstarre, mit den Armen nach vorne gerichtet. Ich habe ihn noch nie zuvor so gesehen. Sein warmer Blick ist auf einmal ganz kalt geworden und alle Freundlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen.

Ich lasse die Arme sinken. „Was ist los?“, frage ich ganz entsetzt.

Doch er antwortet nicht. Ich möchte auf ihn zugehen und ihn in den Arm nehmen, doch ich bleibe stehen. Er ist mir unheimlich. Sein eisiger Blick ist auf mich gerichtet, ich beobachte, wie seine Augen sich langsam verengen. Was hat er vor?

Ich starre ihn nur noch entsetzt an und versuche zu raten, was in diesem, plötzlich ganz verwandeltem, Menschen vor sich geht. Aber ich habe keine Angst vor ihm. Liam ist schon seit 5 Jahren mein Freund. Ich kenne ihn praktisch auswendig. Wir sind zusammen aufgewachsen und haben dieselbe Schule besucht. Und obwohl er oft meine Sätze beendet oder ich seine, weiß ich jetzt nicht, was er denkt. So habe ich ihn in all den Jahren noch nie gesehen.

Ich sehe, wie er seine Hand anspannt. So macht das nur jemand, der zum Schlag ausholen will. Aber er wird mich nicht schlagen. Das würde er nicht. Nicht wegen dieser Sache. Ich liebe ihn und er liebt mich, wir schlagen uns nicht. Das ist nie vorgekommen und es wird auch nie vorkommen. Vor allem nicht bei Liam, meinen ausgeglichenem und gelassenem Freund.

Aber wie so oft lag ich falsch.

Ich sah nur noch, dass Liam seine Hand hob, dann traf mich seine Faust mitten auf den Wangenknochen. Ich schrie auf und taumelte nach rechts. Ich stolperte über meine eigenen Füße, bevor ich hart auf dem Boden aufkam. Mein Kopf schlug auf dem Teer auf und ich spürte , wie Blut aus der Platzwunde an meinem Hinterkopf floss. Meine Sicht verdunkelte sich, überall tauchten plötzlich dunkle Flecken vor meinem Auge auf und das Letzte was ich erkennen konnte, war, wie Liam sich umdrehte und ohne mich noch eines Blickes zu würdigen verschwand.

Dann wurde ich bewusstlos.

WoodkissWhere stories live. Discover now