Kapitel 73. (Jaydens Sicht)

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Ich sehe, wie Laura von der Hängematte springt. Daniel scheint irritiert von dem Schlag, den sie ihm verpasst hat. Etwas mühsam erhebt sich Laura und sprintet los. In die Richtung, in der die anderen ihre Hängematten aufgehängt haben. Sie ist klug. Wahrscheinlich wird sie Hilfe holen wollen. Das Letzte, was ich von ihr sehe, ist, wie sie zwischen den Bäumen verschwindet. Daniel verharrt nicht lange in ihrer Hängematte. Er springt ebenfalls hinab und folgt ihr, als wäre nichts passiert. Dabei habe ich eindeutig das Knacken gehört, als Laura seine Nase zerschmettert hat. Ich schreie, obwohl es sowieso nichts bringt. Daniels Knebel erstickt meinen Ruf.

Und dann werde ich allein gelassen.

Ich weiß, dass ich jetzt nichts mehr tun kann. Nicht, wenn meine Arme und Beine gefesselt sind. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil es meine Schuld ist, dass Daniel Laura überhaupt gefangen hat. Ich fühle mich elend und lehne meinen Kopf an den Baumstamm. Ich bin aus meiner Hängematte gestiegen, weil ich Durst hatte und zum Fluss wollte. Mein Gehirn spielt alles nochmal wie ein Film ab. Daniel ist aufgetaucht und hat mich erst mal unfähig gemacht, zu kämpfen. Er kam von hinten, hat mich fast in den Fluss geworfen und hat mich mit seinen Seilen gefesselt. Damit ich ihn nicht dabei stören kann, wenn er Laura holt. Genau das hat er gesagt. Und, dass er ihr Schmerzen zufügen wird, wenn ich mich nicht ergebe. Mehr habe ich nicht aus seinem Mund bekommen. Schmerzen zugefügt hat er ihr trotzdem. Er hat mich total unfähig gemacht hat, mich zu wehren. Sein Angriff kam überraschend. Ich war nicht darauf vorbereitet. Die Wut überspült mich erneut. Wenn mich jemals jemand finden wird und mich befreit, werde ich es Daniel heimzahlen.

Ich sitze ewig an dem Baum gelehnt, ohne etwas zu tun. Mich quälen die Gedanken an Laura. Wird Daniel ihr etwas tun? Wo wird er sie hin verschleppen? Was hat er vor? Ich sitze schon mindestens seit einer Stunde in der Dunkelheit, ohne ein Geräusch zu hören. Hat Laura geschafft, Daniel zu entkommen? Hat sie Hilfe gefunden?

Ich wünschte, ich hätte ein Messer bei mir. Oder ein Stein. Irgendetwas Scharfes. Ich würde ihr sofort helfen. Wenn Daniel Laura etwas tut, dann ist es allein meine Schuld. Wenn er mich nicht gefesselt hätte, hätte ich ihr helfen können. Ich heule frustriert auf. Ich reiße an meinen Händen, aber das Seil rührt sich nicht. Es schneidet sich nur noch tiefer in meine Haut. Und dann entdecke ich den Stein. Er ist scharf. Und nicht weit von mir entfernt. Höchstens zwei Meter. Ich muss es nur irgendwie schaffen, dorthin zu kommen. Daran könnte ich das Seil aufschürfen, bis ich es durchtrennt habe.

Ich robbe auf dem Rücken an dem Baumstamm nach unten und drehe mich auf den Bauch. Ich wuchte meine Arme nach vorne und ziehe den restlichen Körper hinterher. Es strengt furchtbar an, doch ich gebe nicht auf. Ich kann nicht durch den Mund atmen, weil dort immer noch Daniels Knebel steckt.

Völlig außer Atem schaffe ich es endlich, den Stein zu erreichen. Ich brauche einige Versuche, mich so hinzusetzen, dass ich das Seil an einer spitzen Kante aufreiben kann. Irgendwann schaffe ich es dann doch. Und eine weitere Ewigkeit dauert es, das Seil aufzuscheuern. Nervös durchtrenne ich den letzten Faden und reiße mir den Knebel aus dem Mund. Zum ersten Mal kann ich wieder tief Durchatmen. Mit zitternden Händen öffne ich den Knoten an der Fessel an den Beinen.

Schon die ganze Zeit habe ich dieses ungute Gefühl, dass Daniel Laura gefangen hat. Sonst wäre sie zurückgekommen. Ich bin mir sicher, dass sie mich befreit hätte. Oder?

Sofort springe ich auf und renne in Richtung der anderen los. Vielleicht haben sie etwas mitbekommen. Keuchend bleibe ich stehen. Überall ist es noch dunkel und still. Ich gehe zu einer Hängematte, von der ich weiß, dass sie Heather gehört. „Heather!“, sage ich laut. Sie wacht nicht auf. Ich rufe ein weiteres Mal. Doch auch da passiert nichts. Erst als ich einen Stein vom Boden aufhebe und ihn gegen den Baumstamm schmettere, rührt sie sich. Ich weiß, dass Daniel dieselbe Taktik bei Laura hatte. Er hat auch Steine gegen den Stamm geworfen.

„Jayden?“, fragt sie verschlafen. „Ist etwas passiert?“

Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. „Daniel hat Laura entführt...“

„Machst du Witze?“, ruft sie misstrauisch und ungläubig.

„Nein!“, antworte ich empört.

„Du hast nur geträumt...!“ Sie sinkt zurück in den Stoff. Natürlich, wieso sollte sie mir auch glauben?

„Glaub mir!“, versuche ich es verzweifelt. „Ich weiß doch auch nicht, wie er hier her gekommen ist! Aber vertraue mir!“ Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen.

Sie setzt sich erneut auf. Aber diesmal scheint sie mir wirklich zu glauben. Sie schaut mir in die Augen, als wolle sie die Wahrheit darin erkennen. Dann sagt sie: „Okay. Ich glaube dir.“ Ohne viel weiter zu überlegen, springt sie aus der Hängematte. „Wo sind sie?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich erkläre Heather alles, was passiert ist. Danach wecken wir die anderen. Und nochmal muss ich alles erklären. Nervös knete ich meine Finger, während ich spreche. Ich stelle mir vor, was Daniel schon alles gemacht haben könnte. Was er Laura angetan haben könnte. Mir läuft augenblicklich ein Schauer über den Rücken.

Während ich erzähle, bemerke ich den eisigen Blick, den Max mir zuwirft. Ich weiß nicht, was er damit sagen will. Oder ob er überhaupt etwas damit sagen möchte. Seine Augen sind gefährlich zusammengekniffen. Ich ignoriere es einfach, aber ich kann mich doch nicht davon abbringen, nicht alle paar Minuten einen Blick zu ihm zu werfen. Immer wieder aufs Neue springt mir seine neonorangene Jacke ins Auge.

Ich sage, dass ich vermute, dass Daniel Laura verschleppt hat. Inzwischen bin ich mir sogar ziemlich sicher.

Nachdem ich fertig bin, sagt Jackson entschlossen: „Wir sollten uns aufteilen. Am besten in Gruppen von drei Personen.“ Er teilt mich, Heather und Max einfach in eine Gruppe ein. Max besteht darauf, mit Heather und mir zu gehen. Ich weiß nicht wieso und ich bin mir nicht sicher, ob ich es gut oder schlecht finden soll, dass ich mit Max in einer Gruppe bin. Außerdem beschließt Jackson, dass Kim und Avery hier bleiben, falls Laura doch noch hier in der Nähe ist. Jackson weißt uns an, am Fluss entlang zu laufen. In die Richtung, aus der wir gekommen sind.

Wir brechen sofort auf. Auch wenn Max nicht will, dass wir rennen, ich bringe sie dazu. Seine Meinung ist mir gerade eigentlich egal. Ab und zu schreien wir Lauras Namen oder halten an, um nach Spuren zu suchen. Aber wir finden kein Anzeichen. Es ist immer noch dunkel.

Wir folgen nur dem Fluss. Ich versuche, die Augen offen zu halten, um irgendwelche Spuren zu finden. Doch wie von selbst fallen sie immer wieder zu. Ich zwinge mich, mich zu konzentrieren, und mich nicht von der Müdigkeit einholen zu lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon am Stück wach bin. Und wieder überkommen mich die Schuldgefühle. Ich hätte die anderen schon viel früher wecken sollen. Ich habe meine Zeit vergeudet, als ich elend und im Selbstmitleid versinkend am Baumstamm saß und darauf gewartet habe, dass wie durch Zufall jemand kommt und mich befreit.

Immer wieder fallen meine Augen zu und ich muss mir Mühe geben, nicht gegen irgendeinen verdammten Baumstamm zu laufen. Ich habe ein Ziel vor Augen, das fast unmöglich ist und vielleicht völlig sinnlos. Erstens: Es könnte sein, dass Daniel Laura gar nicht in diese Richtung geschleppt hat. Zweitens: Wie soll ich Spuren finden, wenn alles stockdunkel ist? Frustriert stöhne ich auf.

Aber in welche Richtung wäre Daniel sonst gelaufen? Sicherlich nicht dorthin, wo wir sowieso hingegangen wären, nämlich wenn man dem Fluss ins eine Stromrichtung folgt, zum Highway. Er könnte sich natürlich auch vom Fluss entfernen. Aber wenn ich er wäre, würde ich das nicht tun. Daraus fasse ich wieder neue Kraft und gehe mit frischer Energie weiter.

Einmal halten wir am Fluss an, um etwas zu trinken. Die Sonne taucht den Himmel langsam in ein graues Licht und ich habe keine Ahnung, wie weit wir uns bereits von unserem Nachtlager entfernt haben. Ich bin mir sicher, dass wir schon etwa drei Stunden laufen. Ohne auch nur ein Anzeichen gefunden zu haben. Praktisch könnte sie überall sein. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, es könnte mich ein wenig wacher machen. Das tut es sogar. Aber sobald wir weiterlaufen, ist der Effekt bereits verschwunden.

Wir stolpern eine weitere halbe Stunde durch den Wald. Bäume, nichts als Bäume ziehen an uns vorbei. Ich bin es Leid, immer nur dasselbe zu sehen.

Und dann sehe ich es.

WoodkissWhere stories live. Discover now