Kapitel 60.

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Vor mir steht die versammelte Gruppe. Um einen Hubschrauber. Seine Rotorblätter drehen sich noch leicht, als wäre er erst gerade gelandet. Alle Teilnehmer und Paddler stehen völlig überrascht um den Hubschrauber herum. Sogar Heather ist da. Perplex starre ich in die Runde und sehe, wie die Türe des Hubschraubers geöffnet wird und eine Treppe hinaus fährt. Ein Mann in einem grauen Anzug tritt heraus. Ich weiß sofort wer es ist. Auch ohne in das Gesicht zu blicken.

Der Chef. Was tut er hier? Mir schießen sofort tausend Fragen durch den Kopf. Ich muss mich bemühen, nicht die Kinnlade fallen zu lassen. Möchte er uns etwas Wichtiges persönlich mitteilen? Ist irgendetwas Schlimmes passiert?

Die anderen um mich herum sind genauso überrascht wie ich. Avery und Carter werfen sich Blicke zu und ich sehe Heathers zusammengekniffene Augen. Ich frage mich, was sie denkt, sie ist bereits den ganzen Tag so seltsam. Und dann schaue ich zu Daniel. Sein Gesicht interessiert mich am meisten. Und alles was ich sehe, ist eine ausdruckslose Miene. Unmöglich zu deuten, was ihm in diesem Moment durch den Kopf geht. Er zeigt keine einzige Regung. Und ich weiß, dass er gesehen hat, dass ich ihn anstarre. Aber zu meiner Überraschung ignoriert er es einfach.

„Liebe Teilnehmer!“, ertönt die Stimme des Chefs laut. Ich zwinge mich, meine ungeteilte Aufmerksamkeit ihm zu schenken. Doch er spricht nicht weiter. Irritiert schaue ich ihn an. Er begegnet meinem Blick nicht. Er richtet seinen Blick zu Boden, als hätte er eine sehr schwierige Rede vor sich, vor der er noch ein einziges Mal tief Luft holen muss. Ich erwarte das Schlimmste. Ist jemand gestorben? Die Verwandten eines Teilnehmers? Oder ist es etwas anderes? Die vielen Fragen scheinen mein Gehirn von innen heraus aufzufressen. Ich beobachte, wie sich der Brustkorb des Chefs hebt. Dann blickt er auf und in seinen Augen ist nicht Trauer zu sehen, wie ich zuerst dachte, sondern ein blankes Feuer. Aber es ist keine Wut. Eher so etwas wie Abenteuerlust. Doch das ist wahrscheinlich auch nicht der richtige Begriff.

Und dann geschieht alles auf einmal. Er springt vom Hubschrauber hinunter, macht ein paar Schritte der Gruppe entgegen und streckt seinen Arm aus. Dann zieht Daniel an einem Arm aus der Gruppe heraus. „Du kommst mit mir!“, sagt er so laut, dass sogar ich, die ganz hinten steht, es verstehen kann. Er zieht Daniel schnell hinter sich her.

Ich erwarte, dass Daniel sich wehrt oder etwas Ähnliches. Doch nichts derart geschieht. Er lässt sich einfach davonziehen! Seine Miene hat sich nicht verändert und ist genauso ausdruckslos wie vor einer Minute. Ich sehe einfach nur mit geöffnetem Mund zu. Sein Vater schleppt ihn die Treppe hinauf und als Daniel über die Türschwelle getreten ist, fährt sie auch schon hoch und verschwindet im Bauch der Maschine. Für Daniel gibt es jetzt kein Zurück mehr.

Daniel hat seinen starren Blick auf mich gerichtet. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich halte seinem Blick stand. Bei offener Türe beginnt der Chef unberührt, als wäre nichts passiert, wieder zu sprechen: „Damit hole ich meinen Sohn aus dieser Tour heraus.“ Sein Blick fixiert jemand bestimmten. Ich folge seinem Blick und treffe auf Heather. Wieso Heather? Was hat sie damit zu tun? Ich runzle die Stirn und höre dem Chef weiter zu. „Ich wünsche euch noch viel Vergnügen!“ Ein widerliches Grinsen macht sich auf seinem dicken Gesicht breit und auch bei Daniel umspielt jetzt ein Lächeln seine Lippen. Ich verstehe nicht, was er meint. „Ab jetzt werdet ihr wirklich auf euch allein gestellt sein! Vergesst nicht, das Videotagebuch zu drehen!“ Mit diesen Worten knallt er die Türe vor unseren Augen zuknallen. Doch Daniel kommt ihm zuvor und hält sie mit einer Hand offen.

Er fixiert mich mit seinem Blick und spricht bösartig: „Laura, eins muss ich dir noch sagen. Ich möchte euch ja nicht mit schlechtem Gewissen verlassen!“ Er lacht widerlich. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich die Platten verursacht habe. Und du ahnst nicht, wie nah du und Jayden mit deinen Vermutungen über den Flugzeugabsturz warst. Alles war meine Schuld.“ Ein Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus. „Ich habe den Piloten erstochen, nachdem er mir nicht das Steuer geben wollte. Damit es so aussieht, als hätte er eine Überdosis an Drogen genommen, habe ich ihm vorher ein hochkonzentriertes Getränk eingeflößt.“ Meine Hand krampft sich zu einer Faust zusammen. Die Wut breitet sich in meinem Körper aus, als würde eine Welle darüber rollen. Er hat einen Menschen getötet, nur um an sein Ziel zu kommen? „Bevor wir losgeflogen sind, habe ich dafür gesorgt, dass das Flugzeug mit so wenig Benzin wie möglich startet. Als wir die geeignete Höhe erreicht hatten, habe ich mich mit einem Fallschirm ausgestattet und habe das Flugzeug verlassen. Ohne dass ihr alle etwas gemerkt habt.“ Er lässt seine dunklen Augen gefährlich über die Gruppe schweifen. „Und das war Minuten vor dem eigentlichen Absturz.“ Seine Stimme trieft vor Bösartigkeit. „Ich habe den Suchtrupp gerufen, also seid mir dankbar!“ Er lacht wieder und meine Fingernägel stechen in meine eigene Handinnenfläche. „Allerdings habe ich diesen manipuliert. Laura. Jayden.“ Er erinnert sich daran, dass ich ihm das vorgeworfen habe und Jayden genauso. „Ihr hattet Recht. Und doch war ich schlau genug, um euch eine Lüge einzureden. Und ihr habt es mir geglaubt.“ Verachtend lacht er auf.

Die Wut in mir brodelt heiß, wie in einem Topf, der gleich überkocht. „Ich habe dir nie geglaubt, Daniel!“, schreie ich laut. Zu laut. Aber es ist mir egal.

Daniel lacht mich nur aus, was mich nur noch wütender macht. „Ach, erzähl uns doch keine Märchen, Laura!“ Ich will ihn anschreien, ihm seine schwarzen Haare ausreißen, ihm Schmerzen zufügen. So kenne ich mich selbst gar nicht! Aber im Moment wird mir nur klar, dass er an allem Schuld ist. Ich mache einen Schritt nach vorne, aber jemand hält mich an der Schulter und zieht mich zurück. Ich möchte mich wehren, aber ich erkenne, dass es klüger ist, jetzt nicht auszurasten. Das würde Daniel nur noch mehr amüsieren und bringen würde es sowieso nichts. „Ich habe veranlasst, dass sie euch, Laura, Jayden und Logan, zuletzt finden! Das ist eben der Vorteil, wenn man viel Geld hat!“ Mein Blick gleitet zu seinem Vater, der mit einem noch breiteren Grinsen dasteht. „Vielleicht hättet ihr Laura bei den Vorfall mit den Platten nicht schützen sollen!“ Er macht eine kurze Pause. „Außerdem kannst du mir auch für deine Unterkühlung die Schuld geben. Oder besser gesagt, dafür, dass du bewusstlos geworden bist. Es war leichter, dich herumzukriegen, als ich dachte!“ Er lacht noch einmal. „Nur ein paar K.O.-Tropfen in deinen Tee mischen und schon wirst du bewusstlos.“ Ich spüre, wie sich mein Kiefer verspannt und meine Zähne schmerzhaft aufeinander schlagen. Ich fühle mich wie ein brodelnder Vulkan, der alle paar Sekunden ausbrechen könnte. Ich erinnere mich daran, wie er mir seine Thermoskanne Tee gereicht hat. Ich habe daraus getrunken. Als Einzige. Das würde dann auch erklären, dass ich die Einzige war, die bewusstlos wurde. Aber was hat er für ein Problem mit mir?

Ich zwinge mich, ruhig zu sprechen. Meine Zähne sich aufeinander gepresst, aber er kann mich trotzdem verstehen: „Aber wieso tust du das alles gegen mich? Was habe ich dir getan?“ Bei der letzten Frage kann ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich schreie es laut heraus.

Ich erwarte, dass Daniel mich wieder auslachen wird, aber seine Augen verengen sich nur zu Schlitzen. „Das darf ich dir nicht verraten“, sagt er knapp und mysteriös. Ich hoffe, dass er weiter spricht, aber das tut er nicht. Er fixiert mich nur weiter mit seinem Blick und schaut mich böse an.

Nach ein paar Sekunden fasst er sich wieder und ruft laut: „Ich werde euch jetzt verlassen. Viel Spaß!“ Jetzt ist er wieder normal, denn sein schallendes Gelächter schallt über die Lichtung.

Daniel hat seinen Blick direkt auf mich gerichtet und hält die ganze Zeit Blickkontakt mit mir. So lange, bis die Türe scheppernd ins Schloss fällt. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Doch kaum ist sie geschlossen, öffnet sie sich wieder und ich schaue in das Gesicht des Chefs. „Eins noch: „Während ihr hier steht und fassungslos durch die Gegend schaut, haben wir euch die Flöße weggenommen. Sie sind zerstört. Ich hoffe, ihr wisst, was das bedeutet. Ihr sitzt hier fest! Wehe ihr dreht das Videotagebuch nicht weiter! Und ihr verliert kein Wort über die Flöße, oder dass wir sie zerstört haben. Ihr sagt, dass wir beschlossen haben, euch zu Fuß weiterlaufen zu lassen!“ Er lässt seinen Blick drohend über uns schweifen. Wieder schlägt er die Türe zu. Und diesmal endgültig.

Erst nachdem die Rotorblätter sich wieder zu drehen beginnen realisiere ich, was seine Worte bedeuten.

WoodkissWhere stories live. Discover now