Kapitel 32.

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Als wir aussteigen, muss ich mich wieder an Averys Worte erinnern: „North Bay liegt am Ufer der Nipissing Sees. Daisy hat gesagt, wir werden außerhalb der Stadt parken. Sie haben vor, uns morgen auf eine Bootstour auf eine der vielen Inseln auf diesem See zu schicken. Aber nicht eine solche, wie sie Touristen gern mögen, sondern mit echten Kanus. Wir müssen also selbst unseren Vortrieb schaffen. Wir werden eigentlich nicht direkt nach North Bay hineinfahren, sondern am See entlang fahren zum Ufer des Sees und von dort mit den Kanus auf eine Insel namens 'Sandy Island' fahren.“

Früher war ich einmal mit meiner Schulklasse zum Kanufahren zu einem See gefahren. Es hat mir Spaß gemacht und ich hoffe das wird es morgen auch tun. Aber das glaube ich eher nicht, denn alle außer Logan und Jayden werfen mir alle anderen abwertenden Blicke zu. Ich versuche einfach, sie weitestgehend zu ignorieren. Mir wird ganz flau im Magen, wenn ich daran denke, dass ich morgen das Videotagebuch drehen muss.

Ich schaue mich um: Wir sind wieder von dichtem Wald umgeben, genauso wie bei allen anderen Stellplätzen bisher auch. Aber ich weiß, dass nicht weit von hier ein kleiner Bach ist.

Ich beschließe einfach, mich von der Gruppe zu entfernen. Ich kann ihre Blicke nicht mehr ertragen und gehe auf den Wald zu. Er erscheint mir heller als der in Pembroke, die Bäume stehen nicht so dicht. Ich möchte mich so weit von den Bussen entfernen, wie nur möglich. Also renne ich einfach. Ich liebe das Rennen. Früher habe ich es viel öfter getan als jetzt. Es ist das erst Mal, dass ich wieder renne, seit dem Tag, an dem ich wegen Liam schluchzend zusammengebrochen bin. Irgendwann stoße ich auf einen etwas breiteren Bach, es muss der sein, von dem Avery einmal im Bus erzählt hat. Langsam knie ich mich auf den sandigen Boden am Ufer und tauche die Fingerspitzen in das Wasser. Es ist eiskalt. Sofort ziehe ich sie wieder zurück. Es erinnert mich an den schrecklichen Nachmittag im Wald beim Beerensammeln... Der Bach ist vielleicht eineinhalb Meter breit und nicht sehr tief. Durch das klare Wasser kann ich die Steine auf dem Boden sehen. Und irgendwie beruhigt mich der Anblick. Ich bleibe ewig so stehen und betrachte das Wasser, das leise plätschert...

Und wieder zucke ich zusammen, als es hinter mir knackt. Es ist eindeutig durch das Treten auf einen Ast oder so entstanden. Diesmal drehe ich mich nicht um, denn irgendwie erwarte ich, dass es wieder Jayden ist, der mir gefolgt ist. Schließlich hat er das schon zwei Mal getan. Es knackt erneut. Wahrscheinlich sagt er jetzt gleich etwas. Aber das bleibt aus. Stattdessen höre ich wieder, wie ein Ast zerbricht und dann ein Knarzen, als würde ein Baum gefällt werden.

Erst jetzt drehe ich mich um. Und stolpere vor Schreck nach hinten, als ich sehe, was vor mir steht. Ein Bär. Er ist nur etwa drei Meter von mir entfernt und hat seine großen braunen Augen direkt auf mich gerichtet. Mit schweren Schritten trottet immer näher auf mich zu. Langsam. Mein erster Impuls ist, wegzurennen. Aber ich habe einmal gehört, dass man, wenn man von einem Bär bedroht wird, einfach stehen bleiben soll. Unschlüssig, was ich tun soll, entscheide ich mich dafür, stehen zu bleiben. Mein Herz hämmert in meiner Brust, als wollte es gleich herausspringen. Ich möchte schreien, aber ich habe Angst, dass der Bär dann wütend und aggressiv wird. Und außerdem würde mich wahrscheinlich eh keiner hören. Ich habe mich inzwischen so weit vom Bus entfernt...

Der Bär ist jetzt nur noch ungefähr zwei Meter von mir entfernt. Erneut überlege ich, was ich tun soll. Wegrennen? Stehen bleiben? Wegrennen ist nicht gut. Wahrscheinlich wird er mir dadurch nur noch umso mehr folgen. Und stehen bleiben? Ich schaue mich um. Überall sind Bäume. Neben mir steht einer. Klettern? Nein, ich kann nicht klettern. Er ist nur noch ungefähr einen Meter entfernt. Er grunzt. Ich muss etwas tun! Er bleibt kurz stehen und grunzt ein weiteres Mal. Lauter. Wütender.

Das nutze ich. Wie von selbst springe ich plötzlich auf den Baum zu. Ich halte mich an seiner Rinde fest und versuche mich daran festzuhalten. Doch ich rutsche hinunter. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der Bär neugierig zu mir schaut. In der Reichweite meiner Arme ist kein Ast, an dem ich mich hochziehen könnte. Verzweifelt suche ich mit den Schuhen Halt am Stamm. Doch die Rinde schält sich ab. Ich rutsche. Immer tiefer. Und der Bär schaut mir nur zu! Als wüsste er, was gleich geschehen würde... Und dann falle ich mit einem Plumps auf dem Boden.

Erst jetzt bewegt sich das Tier wieder. Er kommt näher, während ich auf dem Boden liege. Verzweifelt versuche ich, von ihm weg zu robben. Doch er ist schon über mir. Er ist so nah, dass ich seinen schlechten Atem riechen kann. Ich rieche eine Brise verfaulten Fisch und mir wird augenblicklich schlecht.

Er hebt seine Tatze. Er bewegt sie in Richtung Boden. Sie zeigt genau dorthin, wo ich liege. Auf mein Gesicht zu. Ich kneife die Augen zu und spüre fast schon, wie sie auf meinem Gesicht landet.

Und dann höre ich plötzlich einen Schrei.

WoodkissWhere stories live. Discover now