Kapitel 66.

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Ich liege zusammengekauert auf dem Boden. Und es macht mich verrückt, dass ich nicht weiß, wo der Bär ist und was er macht. Ist er noch über mir? Ist er bereits weggelaufen? Ich kann keine Rufe der anderen mehr hören und auch derjenige neben mir macht keine einzige Bewegung.

Langsam lasse ich die Augen locker und lausche auf jedes noch so kleine Geräusch. Und alles was ich höre, ist leises Rascheln und Stampfen, als würde jemand über den Boden gehen. Der Bär? Ich halte die Ungewissheit nicht mehr auf und öffne die Augen mit einem Schlag. Ich liege verdreht da, sodass ich nur die Blätter auf dem Boden sehe. Ich schiele nach außen, um zu sehen, ob der Bär noch über mir steht. Ich strenge meine Augen an doch ich komme nicht so weit, um etwas zu erkennen. Vorsichtig rutsche ich auf den Rücken. Ich weiß, dass ich mich eigentlich tot stellen sollte, aber ich kann nicht anders. Trotzdem klopft mein Herz so verrückt, als wollte es mir aus der Brust springen. Meine Augen suchen nach dem braunen Fell des Bären. Doch alles, was ich sehe, sind hohe Baumkronen. Erleichtert atme ich aus. Aber meine Muskeln entspannen sich immer noch nicht. Darauf bedacht, keine Geräusche zu machen, drehe ich mich so, dass ich die anderen sehen kann, die verstummt sind. Ich möchte gerade den Kopf heben, um nachzusehen, als ich eine leise Stimme vernehme.

„Laura!“, zischt jemand nicht allzu weit entfernt. Nervös huschen meine Augen herum. Ich brauche eine Weile, bis ich darauf komme, dass die Stimme von neben mir kam. Es ist Carter, der da neben mir liegt. „Bleib liegen!“, flüstert er befehlend.

Ich höre auf ihn, weil er mir Angst macht, der Bär könnte immer noch bei uns sein. Mein Puls hallt in meinem Kopf wider, doch ich ignoriere es. Meine Ohren sind auf das kleinste Geräusch gespitzt. Und doch höre ich nichts. Gerade, als ich meinen Kopf hochnehmen will, höre ich erneut das Stampfen und das Rascheln.

Ist das der Bär? Ich hoffe, dass er sich von uns entfernt. Aber mir ist trotzdem bewusst, dass er auch näher kommen könnte. Und genau in diesem Moment hebe ich den Kopf. Und alles was ich sehe, ist das Hinterteil des Bären. Er läuft von uns weg!, jubelt mein Gehirn schon. Und wieder erweist sich der Spruch „Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben!“ als wahr.

Ich bleibe sicherheitshalber noch liegen. Nur für den Fall, dass der Bär nochmal zurückkommen könnte. Und genau in dem Augenblick, in dem ich denke, es ist sicher genug, sich aufzurappeln, kracht es irgendwo hinter mir. Begleitet von einem Schrei. Ich zucke heftig zusammen. Der Bär, der schon fast hinter einem Baum verschwunden wäre, dreht sich um. Verwirrt starrt er zu uns hinüber. Wieder höre ich das Krachen und ich zucke erneut zusammen. Ich will wissen, woher es kommt, aber ich traue mich nicht, den Kopf zu drehen, aus Angst, der Bär könnte noch aufmerksamer auf uns werden. Aber eigentlich ist das jetzt auch egal, denn kaum ist das Geräusch ein weiteres Mal erklungen, rennt er los. Direkt auf uns zu. Ohne darauf zu achten, wer auf dem Boden liegt...

Er stürmt einfach geradeaus. Ich kneife die Augen zusammen, um nicht sehen zu müssen, wie er auf einen von uns tritt. Das letzte, was ich sehe, ist, wie er etwa ein Meter vor mir ist. Ich schließe die Augen, in dem Wissen, dass ich gleich von einem Bären getreten werde. Ich spanne alle meine Muskeln an, in der Hoffnung, dass dadurch die Verletzungen weniger schlimm werden. Sekunde um Sekunde vergeht, ohne das etwas geschieht. Wieder traue ich mich nicht, die Augen zu öffnen.

Ich verlasse mich nur auf meine anderen Sinne. Ich schmecke den blutigen Geschmack von meinen aufgesprungenen Lippen. Ich rieche den Wald um mich herum. Ich fühle den nassen Boden unter mir. Er vibriert leicht. Und dann höre ich das Trampeln. Aber es ist weiter entfernt als gerade eben.

Er knurrt gefährlich. Wieder höre ich das Knacksen und Krachen. Als würde ein Baum gefällt werden!, schießt es mir durch den Kopf. Vollgepumpt mit Adrenalin, wie ich bin, glaube ich das sogar. Nur tief im Hinterkopf schwirrt mir herum, dass es total unlogisch ist. Aber im Moment denke ich bloß, dass dann auch Menschen in der Nähe sein müssten. Hilfe!, kreischt mein Gehirn nur noch. So langsam habe ich echt das Gefühl, ich drehe durch! Ich muss vollkommen bekloppt sein! Es ist ein Wunder, dass ich trotzdem still liegen bleibe, obwohl ich brennend wissen will, was der Bär hinter meinem Rücken macht.

Ein spitzer Schrei dringt zu meinen Ohren durch. Kim!, denke ich. Mir fällt auf, dass ich nicht einmal weiß, wo sie ist. Ich habe sie immer nur gehört, aber nie gesehen. Mein verwirrtes Gehirn reimt sich zusammen, dass sie von den Baumfällern bedroht wird. Ich bin wie zwiegespalten. Die eine Hälfte möchte aufspringen und Kim vor den Baumfällern retten und die andere Hälfte möchte liegen bleiben, um sich vor dem Bären zu schützen. Ich entscheide mich für die letztere Variante. Für die Vernünftigere.

Kim schreit wieder. Ich möchte ihr helfen. Und doch bleibe ich liegen. Ein noch lauteres Krachen ertönt. Und kurz darauf ein Plumpsen. Ein Stöhnen dringt an mein Ohr. Ich erwarte, dass ein umgefallener Baum Kim unter sich begraben hat. Mein Gehirn ist ganz in sein Fantasiegespinst vertieft.

Der Bär schreit auf. Der Schrei endet in einem Knurren und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Danach ist alles totenstill. Nicht ein Blatt bewegt sich.

Nach ein paar nervenaufreibenden Minuten ist alles vorbei. Der Bär entfernt sich immer weiter von uns, bis er irgendwann gar nicht mehr zu sehen ist. Erst dann traue ich mich, mich aufzurappeln. Alle meine Knochen und Gelenke knacksen. Das erste, was ich tue, ist, nach den Baumfällern und dem umgefallenen Baum Ausschau zu halten. Doch das sehe ich nicht. Stattdessen liegt Kim seltsam verdreht an der Wurzel eines Baumes. Zuerst bin ich verwirrt, doch dann löst sich das Wirrwarr in meinem Gehirn auf und ich renne auf Kim zu. Sie muss irgendwie auf diesen Baum geklettert und herunter gefallen sein. Es sieht aus, als hätte sie sich etwas gebrochen. Ihr Gesicht ist in die Erde gedrückt und sie bewegt sich nicht.

„Kim!“, rufe ich und knie mich neben sie. Die anderen erheben sich auch vom Boden. Jayden ist als Erster bei mir.

„Hat sie sich etwas gebrochen?“, keucht er. Das wäre noch genau das, was uns gefehlt hätte.

„Ich weiß es nicht.“ Ich habe keine Ahnung, wie ich sie auf den Rücken drehen soll, ohne dass ich ihr noch weiteren Schaden zufüge, deshalb sitze ich nur unfähig, etwas zu tun, da. Außerdem tut mein Unterarm höllisch weh. Ich muss ihn ungünstig gehalten haben, als ich auf dem Boden lag.

Max kommt näher und sieht sich Kim an. „Ich war früher Sanitäter. Lasst mich an sie heran!“

Schnell rutschen ich und Jayden zur Seite. Er dreht Kim vorsichtig auf den Rücken und sie stöhnt leise.Er untersucht sie gründlich. „Sie hat sich nichts gebrochen“, erklärt der Mann. Kim hustet und kurz darauf öffnet sie ihre Augen. Erleichtert atme ich aus. Ich bin so froh, dass nichts Ernsthaftes mit Kim ist. Das wäre nur eine weitere Behinderung, wenn wir vorankommen wollen. Und dann werde ich ein zweites Mal heute enttäuscht: „Aber es könnte sein, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung hat.“

WoodkissWhere stories live. Discover now