Kapitel 9.

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„Nun... Machen wir mit dem Wichtigsten weiter...“ Wichtigstes? Ich denke an irgendwelche Überlebens-Regeln oder so, aber Ray öffnet eine Seite, auf der eine Landkarte zu sehen ist, die ein roter Strich durchzieht: Unsere Route.

„Das ist unsere Route. Ich werde sie natürlich noch für alle ausdrucken, damit Sie sie alle mitnehmen können... Die Strecke geht offiziell von Montreal nach Seattle, aber ihr dürft oder solltet trotzdem noch ans Meer fahren“, sagt er und dann beginnt er, uns die Strecke zu erklären.

Die Reise wird, wie schon gesagt, in Montreal starten. Von dort aus geht es nach Ottawa, durch Pembroke nach North Bay. Dann werden wir durch mehrere kleine Städte fahren nach Fort Hope und Red Lake. Nachdem wir in Winnipeg waren, werden wir wieder in den USA weiterfahren und folgen dort der Grenze zu Kanada nach Spokane. Ab da werden es noch ungefähr 500 Kilometer bis zum Meer sein.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass mein Kopf sich wieder langsam zum Fenster gedreht hat. Jetzt sind nur noch die Dächer in Sonnenlicht getaucht.

Als ich wieder nach vorne schaue, zeigt die Leinwand eine PowerPoint Folie, auf der nur ein weiterer Text und ein Bild zu sehen ist, das ein Buchcover zeigt. Der Text ist so klein geschrieben, dass ich es von hinten kaum lesen kann. Aber wie es aussieht, geht es um das Buch.

Der Mann hält ein buntes, quadratisches Etwas in die Höhe und ich erkenne erst auf den zweiten Blick, dass es dasselbe Buch ist, wie vorne auf der Leinwand. „Dieses Buch ...“, sagt er und macht eine bedeutende Pause. „... ist heilig!“

Heilig? Was soll das den jetzt heißen? So langsam stört mich seine Ausdrucksweise echt!

„Ihr Teilnehmer werdet alle ein Exemplar davon bekommen, das ihr dann zu Hause fertig lesen werdet. Ich weiß, es ist nur noch eine Woche bis zum Start, aber die Druckerei hat es nicht schneller hinbekommen...“ Er nimmt einen Stapel vom Tisch und drückt ihn Ray in die Hände, damit er es austeilt.

Als ich mein Exemplar in der Hand halte, sehe ich, wie dick es ist. Der Titel ist in neon-grüner Farbe auf schwarzem Hintergrund geschrieben. 'Überleben in der Wildnis' ist der Titel. „Ich möchte, dass ihr das Buch bis zum Beginn unserer Tour zu Ende gelesen habt! Ich kann das natürlich nicht selbst überprüfen, aber es hängt eure und die Sicherheit aller anderen davon ab! Denn das Buch enthält sehr wichtige Informationen für Gefahrensituationen wenn ihr allein seid!“

Ich lese zwar gerne, aber nicht solche Bücher. Ich liebe dicke Bücher über Fantasy und eigentlich auch Liebesgeschichten – aber zur Zeit hängen die mir so ziemlich zum Hals raus! Noch dazu lese ich super langsam und ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das ganze Buch über so ein trockenes Thema bis zum Ende nächster Woche fertig lesen soll! Aber wenn es sein muss...

Trotzdem regt es mich auf. Wenn der Inhalt so wichtig sein soll, weshalb konnten sie es uns dann nicht früher geben? Ja, ich weiß, die Druckerei. Aber mir hätte auch ein E-Book gereicht. Ehrlich gesagt kommt mir alles etwas schlecht organisiert vor. Ich meine, die Versammlung zur Tour findet erst eine Woche vor dem Start statt! Und es gibt nicht einmal einen Tag, an dem wir uns ein bisschen näher kennenlernen können, wenn wir schon zwei Monate am Stück in zwei kleinen Bussen zusammengedrängt verbringen müssen!

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er: „Ich finde, wenn man so lange immer beieinander ist, sollte man sich auch einigermaßen gut kennen. Deshalb haben wir kurzfristig entschieden, dass sich am Tag vor der Abreise, also einem Samstag, nochmal alle Teilnehmer treffen, um sich besser kennenzulernen.“ Na also doch. Immerhin das.

„Gut. Dann hätten wir das auch abgehakt“, beginnt er wieder und lächelt uns an. „Kommen wir zu einem weiteren Punkt.“ Er schaut auf seine Karteikarte.

„Die rechtlichen Dinge. Es könnte natürlich sein, dass jemandem von euch...“ - er schaut jeden von uns Jugendlichen ernst an und mich überläuft es kalt, als sein Blick mich streift - „...irgendetwas passiert. Das könnte natürlich eine Verletzung sein oder – im schlimmsten Fall – der Tod.“ Schon wieder macht er eine dieser Pausen, die mich inzwischen echt nerven. „Natürlich tun wir alles, damit das nicht passiert und es ist auch äußerst unwahrscheinlich, dass so etwas geschieht!“ Er grinst irgendwie komisch. Es ist genau diese Art von Grinsen, die manche Bösewichter im Film haben, wenn sie etwas Schlechtes im Sinn haben. Aber das wird er wohl nicht haben, so wie er redet und sich ständig wiederholt. Trotzdem macht es mich etwas misstrauisch.

Ich beobachte die anderen. Zwei Mädchen schauen sich leicht entsetzt an, das andere, mit langen, haselnussbraunen Haaren mit künstlich blonden Strähnen, sieht aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Einige Eltern sehen fast genauso aus und andere tuscheln nur nervös. Und wieder andere zeigen überhaupt keine Regung. Genauso wie ich. Ich habe keine Angst davor, dass mir irgendetwas passieren könnte. Das war mir auch schon vorher klar. Der Mann hat das eben nur sehr direkt ausgesprochen.

Aber es ist trotzdem seltsam, fast ist es erschreckend, wie ruhig ich bleibe. Ich fühle mich, als würde ich alles aus einer Trance sehen. Das geht schon seit Wochen so. Es ist, als hätte ich keine Gefühle mehr. Tief in meinem Inneren möchte ich, dass es wieder so wird wie früher, aber dann spüre ich wieder diese tiefe Wunde in mir, die nur langsam verheilen kann.

WoodkissWhere stories live. Discover now