Kapitel 4.

169 15 9
                                    

Ich liege in meinem Bett. Berichtigung: Ich liege immer noch in meinem Bett. Das tue ich schon seit zwei Tagen, seit ich aus dem Krankenhaus gekommen bin. Aber es wird nicht besser. Ein gebrochenes Herz kann man nicht einfach so heilen. Das einzigste Mal, dass ich aufgestanden war, war, um joggen zu gehen, nur so zur Ablenkung. Aber das war ja gründlich nach hinten losgegangen. Eigentlich wollte ich mich nur auf andere Gedanken bringen, und es nicht schlimmer machen!

Ich entdecke die Tasse mit dem Tee auf meinem Nachttisch, die mir meine Mutter hingestellt haben musste. Ich hatte es nicht mal bemerkt. Ich bin froh, dass meine Eltern mich in Ruhe gelassen haben, ist wohl auch besser so. Ich bin so auf mich selbst und meine Probleme fixiert, dass ich alles andere vergesse. Ich esse nichts, trinke nichts und gehe nicht zur Schule. Ich liege nur in meinem Bett und denke an nichts – jedenfalls versuche ich das. Hin und wieder bohrt sich ein Gedanke an Liam in mein Gehirn, den ich dann aber schnell wieder wegschiebe. Seit meinem Ausflug nach draußen weine ich nicht mehr.

Langsam habe ich eingesehen, dass es keinen Sinn hat, stundenlang um jemanden zu weinen, dem man nichts bedeutet hat (jedenfalls glaube ich, dass ich ihm nichts bedeutet habe, mein Herz hofft immer noch darauf, dass es nicht stimmt). Trotzdem fühle ich mich, als wäre ich in ein tiefes Loch gestürzt, aus dem ich nie wieder heraus kommen werde. Liam hat nicht einmal angerufen oder mich besucht. Früher war er jedes mal zu mir gekommen, wenn ich auch nur eine kleine Erkältung hatte. Was ist nur mit ihm los?

Ich war 5 Jahre mit ihm zusammen, habe ihn so sehr geliebt, dass es weh tat. Ich habe ihn damals im Kindergarten kennengelernt, als er mit 4 Jahren in mein Nachbarhaus zog. Von da an gingen wir jeden Morgen denselben Weg zum Kindergarten, trafen uns Nachmittags im Garten um in seinem aufblasbaren Pool zu baden und spielten gemeinsam im Sandkasten. Später gingen wir in die gleiche Klasse. Wir halfen uns gegenseitig bei den Hausaufgaben (er war gut in Mathe, ich in Englisch), hatten die gleichen Freunde und teilten einfach alles miteinander. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich plötzlich dieses unbekannte Gefühl, immer wenn ich ihn sah. Ich freute mich jedes Mal, wenn er morgens vor der Haustüre stand, um mich für die Schule abzuholen, weil ich diese „Schmetterlinge“ im Bauch hatte. Mein Herz schlug auf einmal immer etwas höher, wenn ich bei ihm war. Eines Tages hatte ich davon meiner besten Freundin, Betty, erzählt, und sie meinte, ich wäre in Liam verknallt. Ich hatte schon oft davon gehört, in Filmen und Büchern, doch ich hatte nie gewusst, wie es sich anfühlte. Jetzt wusste ich es. Danach hatte es nicht mehr lange gedauert, dass Liam mich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wollte.

Wieder breitet sich der stechende, drückende Schmerz in meinem Herz aus. Ich drücke meinen Kopf noch tiefer ins Kopfkissen. Ich habe dass Gefühl, dass mein Unterbewusstsein mich immer wieder in die schönen Erinnerungen mit Liam versetzt, nur um mich daran zu erinnern, dass es jetzt vorbei ist. Die Enttäuschung ist kaum auszuhalten, aber ich muss über ihn hinwegkommen. Ich kann ja schließlich nicht ewig über ihn trauern! Ich möchte endlich Antworten bekommen. Wieso hat Liam sich so verhalten?

Deshalb beschließe ich, endlich aufzustehen und das Leben weiterzuführen. Wenn Liam nicht zu mir kommt, gehe ich eben zu ihm.

Ein Blick auf meinen Wecker verrät mir, dass es jetzt 14 Uhr ist, Liam müsste schon schulfrei haben. Also rappele ich mich mühsam auf und schlürfe ins Badezimmer. Über dem Waschbecken hängt ein Spiegel. Das Mädchen darin hat verstrubbelte, fettige naturrote Haare mit leichten Wellen, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind, hellblaue Augen, die etwas rot unterlaufen sind und ihre Haut ist fleckig. Sie hat eine kleine Stupsnase und schmale, kleine Lippen, die leicht trocken sind.

Ich erkenne mich kaum wieder. Es ist, als schaue ich jetzt seit Jahren das erste Mal in den Spiegel. Langsam öffne ich den Pferdeschwanz, dann dusche ich und trinke etwas, bevor ich wieder in mein Zimmer gehe und ich mir etwas passendes zum Anziehen heraussuche. Ich ziehe mir noch eine Jacke über, denn draußen regnet es. In meine Handtasche stecke ich mein Handy, etwas Geld (man weiß ja nie, was man alles braucht...) und den Hausschlüssel.

Meine Eltern und Lisa sind nicht da, deshalb hinterlasse ich ihnen einen kleinen Zettel, auf dem steht, dass ich bei Liam bin.

Ich öffne die Haustüre und gehe durch den Regen ein Haus weiter. Kurze Zeit später stehe ich vor Liams Haustür und zögere zu klingeln. Aber dann denke ich: Er wird mir nichts tun, nicht noch einmal.

Und dann klingle ich.

WoodkissWhere stories live. Discover now