Kapitel 28.

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Eigentlich ist mir die Lust auf ein weiteres Video vergangen, aber aus Neugier, was sie wohl tun, wenn ich einen ganzen Tag nicht auftauchen kann, weil ich gerade bewusstlos bin, klicke ich doch auf „Tag 4“. Theoretisch hätte ich diese Folge sehen können, doch ich war noch etwas müde, weshalb ich schon davor zu Bett gegangen bin.

Sie fangen damit an, dass Heather vor der Kamera heftig husten muss und dann sagt: „Ich habe mir eine Erkältung eingefangen. Carter hat auch Schnupfen, aber Jayden geht es gut.“ Das Ende klingt abgehackt. Als hätte sie in Wahrheit noch mehr gesagt. Oder bilde ich es mir bloß ein, weil ich es so erwarte? Aber dennoch hat sie im Video kein Wort über mich und Avery verloren.

Dann meldet sich der Moderator zu Wort: „Wahrscheinlich fragen sie sich jetzt, was mit den anderen Mädchen passiert ist, Laura und Avery.“ Im Hintergrund des Videos sieht man, wie sie das Frühstück herrichten und essen. „Eine, Laura, hat Heimweh bekommen, vor allem weil sie gestern allein sein musste, ohne ihre Familie, tief im Wald, bei Regen...“ Was redet er da? Heimweh? „Wir haben sie allein zu einem Kino geschickt, um sie abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Avery hat sie dabei begleitet. Schlimm, dass eine Sendung wegen unreifen Kindern so lange aufgehalten wird!“ Normalerweise würde ich jetzt wütend werden, doch alles, was ich spüre, ist, wie sich mein Bauch zusammenzieht. Ich bin nicht unreif, kein Kind mehr und schon gar nicht brauche ich einen Film, um auf andere Gedanken zu kommen,wegen Heimweh! Ich möchte nicht mehr Gerede von diesem Moderator hören. Ich kann es nicht mehr hören, wie sie Lügen über mich erfinden! Und wieso das alles? Weil sie Ausreden suchen, um selbst nicht schlecht dazustehen, weil jemand wegen ihnen eine Unterkühlung bekommen hat! Ich klappe den Laptop zu und gehe nach draußen, nur um nicht mehr an diese Sendung denken zu müssen.

Ich frage mich, ob es ein Fehler war, hier teilzunehmen. Hätte ich mich anders entscheiden, wenn ich gewusst hätte, dass solche Dinge geschehen würden? Aber wieso tun sie das? Ich sinke auf den Boden und fange ungewollt an zu weinen. Ich muss wieder an Liam denken. Auch wenn ich mir geschworen habe, nicht mehr wegen ihm zu weinen – jetzt breche ich meinen Vorsatz.

Irgendwann liege ich nur noch still und zusammengerollt auf dem Boden. Meine Augen sind geschlossen und ich lausche nur den Geräuschen der Natur. Meine Arme sind um meine Knie geschlungen. Ab und zu wird die Stille von einem Husten zerbrochen. Der Himmel ist mit Wolken behangen. Ich fühle mich allein.

Erst am späten Nachmittag kehren die anderen zurück und finden mich auf dem Boden sitzend an einem Baum. Ich habe den ganzen Tag keinen einzigen Laut von mir gegeben. Ich habe keine Miene verzogen. Ich habe versucht, nicht nachzudenken. Das war alles, was ich getan habe.

Heather ist die Erste, die mich bemerkt. „Wie geht es dir?“ Ich antworte nicht und spiele immer noch mit den Tannennadeln in meinen Händen. Sie setzt sich neben mich und fragt weiter: „Was ist passiert?“

Ich zögere kurz, dann erzähle ich ihr alles. Als ich zu Ende gesprochen habe, sagt sie: „Ich weiß, es ist fürchterlich. Aber du musst darüber hinwegsehen. Es sind nur Lügen-“

Ich unterbreche sie: „Ich kann nicht darüber hinwegsehen! Jetzt weiß das ganze Land, dass ich ein Weichei bin! Es sind schreckliche Lügen! Wieso tun sie das?“ Es soll wütend klingen, oder zumindest aufgebracht. Doch das gelingt mir nicht. Ich krächze bestenfalls.

WoodkissWhere stories live. Discover now