Kapitel 35.

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Nach der Kanutour am nächsten Abend

Die Kanufahrt eins der anstrengendsten Dinge, die ich je getan habe. Irgendwie war es auch schön, wenn die Sonne im See geglitzert hat. Ich habe mich viel mit Jayden und Logan unterhalten, die die einzigsten sind, die überhaupt noch mit mir reden möchten. Irgendwie erinnert mich das ein wenig an den Kindergarten, als meine beste Freundin damals eine Woche lang beleidigt war, als ich beim Malen mit Wasserfarben aus Versehen der Wassertopf umgefallen ist und ich somit ihr Gemälde zerstört habe. Erst nach ein paar Tagen hat sie mir verziehen und wieder mit mir gesprochen.

Während den Pausen, die wir bei unserer Kanutour gemacht haben, habe ich oft gehört, wie Daniel die anderen noch mehr angestachelt hat, mich zu hassen. Ich habe ihn dabei ignoriert und saß mit Jayden und Logan etwas abseits der anderen. Immer wenn ich ihn so ansah, blitzte das Bild in meinem Kopf auf, wie er mir im Regen die Tasse mit dem Tee gibt. Irgendwie wollen die beiden Bilder einfach nicht zusammenpassen.

Jetzt liegen wir alle erschöpft in unseren Betten und ruhen uns aus. Draußen ist es noch hell und während ich so daliege und in den Himmel starre, beobachte ich, wie er immer dunkler wird.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich wache erst wieder auf, als es schon fast ganz dunkel ist. Schwaches Licht dringt durch die Fenster. Ich bin nicht allein im Bus. Heather, Kim und Avery schlafen in ihren Betten.

Leise schleiche ich mich aus dem Bus. Draußen steht ein Campingstuhl, auf den ich mich setze. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte den Himmel. Ich beobachte, wie vereinzelt kleine Wölkchen darüber hinwegziehen. Irgendwann geht der erste Stern auf. Hier, wo die nächste Stadt ein paar Kilometer entfernt liegt, sieht man die Sterne sehr gut. Das liegt an der Lichtverschmutzung. Das hat mir mein Dad früher einmal erklärt. Wir haben oft die Sterne beobachtet. Wir sind immer außerhalb der Stadt gefahren, da man auf Staten Island schlecht den Himmel beobachten kann. Ich kannte einmal alle Sternbilder unserer Hemispäre. Mein Dad hat sie mir gezeigt. Aber ich glaube, ich habe die meisten vergessen. Wir hatten einmal ein Teleskop, aber jetzt weiß ich nicht einmal, wo es ist.

Mir kamen die Sterne immer als etwas Majestätisches vor. Etwas, das so viele Milliarden Kilometer von unserer Erde entfernt ist, und man so gut sehen kann. Immer habe ich mich gefragt, ob wir wohl ganz allein in diesem Universum sind.

Erst jetzt werfe ich einen Blick zu unserem den Bussen. Bei den Jungs brennt Licht. Für einen Augenblick erwäge ich, zu ihnen zu gehen, doch dann entscheide ich mich dagegen.

Stattdessen bleibe ich auf dem Stuhl sitzen und sehe dem Mond zu, der langsam über den Baumwipfeln aufsteigt. Es ist Vollmond.

Ich bin ganz versunken in den Anblick, sodass ich zusammenfahre, als ich plötzlich das Öffnen einer Bustür höre. Ich fahre herum und erwarte, dass vielleicht Heather in der Türe steht und sagt, ich solle hereinkommen. Aber nein, es kam ja von der anderen Seite. Vom Jungs-Bus. Jayden steigt aus und schleißt langsam die Türe hinter sich. Er hat zwei dicke Klumpen unterm Arm. In der Dunkelheit kann ich nicht erkennen, was es genau ist.

Dann nimmt er sich einer der Stühle, die am Bus lehnen und stellt ihn neben mich. Nett, dass er mir Gesellschaft leisten will. Ich muss automatisch lächeln. „Hier ist eine Decke für dich“, sagt er und drückt mir eine in die Hände. „Es ist kalt.“

Er hat Recht. Aber ich habe es gar nicht bemerkt, weil ich so in den Anblick der Sterne versunken war. „Danke“, murmle ich schüchtern zurück und augenblicklich muss ich frösteln.

Jayden holt sich einen Stuhl und stellt ihn neben mir auf. Eine Weile sagt niemand etwas. Wir betrachten beide den mit Sternen übersäten Himmel.

„Ich weiß, dass dich Daniels Beschuldigungen wegen dem Platten fertig machen. Aber lass dich nicht von ihm herunterziehen!“ Was ist er? Ein Psychologe? Oder ist er einfach nur fürsorglich? Das erinnert mich wieder an etwas, dass ich eigentlich zu meinen „verbotenen Gedanken“ (Gedanken, die ich sobald sie in meinem Kopf auftauchen, wieder verdränge) gesteckt hatte. Liam. Er war genauso. Und wieder gleitet mein Blick über sein Gesicht. Wie schon so oft muss ich den Blick abwenden, weil diese Ähnlichkeiten Schmerzen in meiner Brust bereiten. „Ich glaube dir, dass du es nicht getan hast. Und ich werde immer für dich da sein!“ Seine Augen sind so dunkel, dass sie fast mit der Nacht um uns herum verschmelzen.

Meinte er das jetzt auf freundschaftliche Weise oder...? Egal, wie er es meinte, es ist seltsam. Wir kennen uns gerade mal ungefähr eineinhalb Wochen und er spricht schon so mit mir!

Ich kann nicht anders und schaue wieder zu ihm. Dunkelblonde Locken fallen ihm auf die Stirn und verdecken Teile der Augenbrauen. Ich zwinge mich, das jetzt nicht wieder mit ihm zu vergleichen. Jetzt sehe ich ihm direkt in die Augen. Und er schaut mir in die Augen. Wir sitzen ewig so da, ohne dass jemand auch nur ein Wort spricht.

„Laura?“, unterbricht er unerwartet die Stille.

„Ja?“, flüstere ich zurück.

Er unterbricht den Blickkontakt. „Eine Frage hast du mir noch nicht beantwortet.“ Welche Frage? Ich kann mich an keine erinnern, der ich nicht geantwortet hätte. „Weist du noch, damals, am Tag vor dem Start?“ Er wartet auf meine Erleuchtung, aber die bleibt offensichtlich aus. „Ich habe dich gefragt, wieso du hier teilnimmst.“

Jetzt erinnere ich mich. „Ich habe dir geantwortet.“ Das habe ich wirklich. Ich weiß noch, dass ich ihm erzählt habe, dass eine Freundin von mir einmal einen Überlebens-Workshop gemacht hat und ich das auch ausprobieren möchte.

„Ich weiß.“ Ahnt er etwa, dass ich gelogen habe? „Aber was ist der wahre Grund?“ Erst jetzt kann er mir wieder in die Augen schauen.

Soll ich ihm jetzt die Wahrheit sagen? Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, jetzt wo er so direkt danach fragt, aber alles in mir sträubt sich dagegen. Und dabei weiß ich selbst nicht wieso. Er mustert mich gespannt, während ich mit mir selbst in Gedanken ringe und überlege, ob ich es ihm erzählen soll. Und dann strömt es einfach aus mir heraus: „Ich hatte einen Freund. Liam...“

Ich erzähle ihm einfach alles. Von Anfang an. Er ist der beste Zuhörer, den ich je gehabt habe. Während ich rede, sagt er kein Wort, lässt mich ausreden und ich sehe an seinem Blick, dass seine Aufmerksamkeit nie nachlässt. Nach einer gefühlten Stunde bin ich endlich fertig. Nervös spiele ich mit meinen Fingern herum, als ich auf sein Urteil warte. Aber es bleibt still, er sagt gar nichts. Das Einzige, was er tut, ist, auf den Boden zu unseren Füßen starren.

Ich mache gerade den Mund auf, um zu fragen, was los sei, dann schnellt sein Kopf plötzlich hoch und er lehnt sich über beide Stuhllehnen zu mir hinüber. Verdutzt schaue ich ihn an, doch kaum kann ich mich fragen, was er da macht, drückt er schon seine Lippen auf meine.

WoodkissWhere stories live. Discover now