5.

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5.

Rain

Himmel Mädchen, kannst du denn nicht lächeln?", fragte die Fotografin gereizt. Ich versuchte krampfhaft ein passables Lächeln zustande zu bringen, was mir jedoch kläglich misslang. Ich ignorierte das Gekicher der Mädchen hinter mir und versuchte es noch einmal. Die Frau schüttelte den Kopf. "Nein. Das sieht wie eine Grimasse aus." Na dann. "Versuch ganz normal auszusehen." Meine Mundwinkel sanken nach unten.

"Lachst du denn nie?", fauchte sie schließlich. Ich schüttelte den Kopf. Schließlich schoss sie schimpfend ein paar Bilder von mir und winkte mich dann weg. "Los jetzt. Ich habe noch ein paar andere Mädchen zu fotografieren, Kind." Ich seufzte. Es war einfach nicht meine Art strahlend auszusehen, doch wenn ich es versuchte, sah ich aus wie ein Honigkuchenpferd.

Ich hasste es fotografiert zu werden. Aber hier musste es einfach sein.

Georgia hatte noch ein paar organisatorische Sachen besprochen. Cohen war eine der höchsten Berater im Palast. Er würde mich ohne Probleme in den Palast schleusen können.

Es war ein komisches Gefühl zu wissen, erwählt zu werden und ich hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber den anderen Mädchen, die sich schön machten und hofften, erwählt zu werden.

Allerdings mussten sie nicht so eine beschissene Aufgabe wie ich lösen. Ich hatte nur noch gut drei Wochen Zeit zur Vorbereitung. Ich musste wieder in Form kommen.

Georgia musste nach Illéa, um dort Vorbereitungen zu treffen, darum hatte ich die Ehre mit meinem unbarmherzigen alten Mentor trainieren zu dürfen.

Das würde knallhart werden.

An den Rest des letzten Abends erinnere ich mich nur schemenhaft. Cohen hatte meinem Bruder klar gemacht, dass dieses Haus nun uns gehörte. Er begriff es immer noch nicht, aber es brauchte immer eine gewisse Zeit, bis aus einem Haus ein Zuhause werden würde.

Ich war erschöpft in meinem Bett eingeschlafen. Cohen war ebenso wie Georgia bereits weg als ich aufwachte. Ich hatte mich gefragt, was Eli dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich in den Palast ging, um zu spionieren. Das war Hochverrat und die Strafen dafür waren hart, wenn ich erwischt werden würde. Das machte mir am meisten Angst, nicht mehr für meine Geschwister da zu sein.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, lag mein Bruder neben mir. Er sah im Schlaf noch viel jünger aus, als er eigentlich war. Eli und ich hatten immer in einem Bett geschlafen, die Zwillinge im anderem. Ich wusste das er meine Nähe gebraucht hatte. Ich strich ihm eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, dann stand ich leise auf, um ihn nicht zu wecken. Ich ließ ihn schlafen, weil ich wusste, dass er Ruhe brauchte. Es war Sonntag, sein einziger freier Tag, den er sonst eigentlich mit Feldarbeit ausgefüllt hatte. Er brauchte Erholung. Mein Bruder hatte keine Miene verzogen, nach Mums Tod das neue Familienoberhaupt zu sein. Die Verantwortung von zwei Kleinkindern und mir zu tragen. Ich bewunderte ihn von ganzen Herzen dafür. Er hatte in den letzten Jahren schwer gearbeitet, vierzehn Stunden am Tag. Manchmal war er so erschöpft nach Hause gekommen, dass er mir auf der Türschwelle umkippte. Für ihn war das selbstverständlich. Er konnte mir wochenlang nicht in die Augen sehen, als er mir erklärte, dass ich nicht weiter zur Schule gehen könnte, obwohl ich ihm versicherte, dass ich es verstand. Ich war stolz darauf, dass wir es trotz der Schwierigkeiten schafften auf eigenen Füßen zu stehen. Und das bwohl wir Siebener waren. Ich wusste, dass Eli sich auch vor den Kleinen davor schämte, ihnen kein besseres Leben ermöglichen zu können, doch ich wusste, dass sich das ändern konnte.

◇✵◇

Nachmittags, als wir die zwei Kisten, die von unserem altem Leben übrig waren, zu den Fahrrädern trugen, die wir im Schuppen des Hauses gefunden hatten, war Eli wieder in der Lage zu sprechen.

"Ich kann es immer noch nicht glauben.", flüsterte er.

Ich legte ihm die Hand auf die Schultern. "Das musst du nicht, Eli." Daraufhin schwieg er wieder, was mich traurig stimmte. Früher hatte er immer gelacht, war ein Witzbold gewesen, konnte sich nie einen Witz verkneifen. Damals war ich manchmal regelrecht genervt von seinen schlechten Witzen, in den letzten Jahren hatte ich sie so vermisst, dass ich mich nachts neben ihm in den Schlaf geweint hatte. Das ließ ich ihn jedoch nie wissen. Es hätte ihm ein noch schlechteres Gewissen gemacht. Ich wollte ihm jedoch nach langer Zeit wieder ein Lachen entlocken.

"Ich habe im Schrank eine Gitarre gefunden." Sein Kopf fuhr herum und er starrte mich ungläubig an. Ich weiß, dass er seine Gitarre, die wir vor zwei Jahren verkaufen mussten, weil das Dach kaputt war, schmerzlich vermisste. Er war ein begnadeter Klavier und Gitarrenspieler. Dazu hatte ich gesungen. Doch das war lange her. Mir fiel auf, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesungen hatte.

Eli berührte mich leicht an der Schulter und bedeutete mir stehen zu bleiben und kramte in einer der Kisten herum. Von ganz unten zog er ein dünnes Notizheft vor, mit einem vertrauten Einband.

Mein Herz blieb stehen. "Du hast...?" Er nickte. Es war ein altes Notizheft mit uralten Liedern, von Hand geschrieben. Es war ungefähr hundert Jahre alt und stammte aus der Zeit vor dem Dritten Weltkrieg. Es hätte ein gutes Sümmchen ergeben, wenn Eli es verkauft hätte, doch er wusste, dass es mir unbeschreiblich viel bedeutete. Ich dachte, es wäre mit der Gitarre verschwunden.

"Ich konnte es einfach nicht.", sagte mein Bruder mit brüchiger Stimme. Mit einem erstickten Keuchen umarmte ich ihn. Ganz sanft legte er seine Arme um mich und umarmte mich sanft.

"Wollen wir mal wieder zusammen Musik machen, Tiiu?", fragte er leise. Als er meinem alten Namen nannte brach ich in Tränen aus und er wiegte mich trösend hin und her. Nach dem Vorfall vor zwei Jahren, hatte ich es einfach nicht mehr geschafft meinen alten Namen zu hören und hatte meinen zweiten als Rufnamen genommen. Da ich nicht amtlich eingetragen war, bestand darin kein Problem. Eli hatte es verstanden.

"Nicht weinen.", sagte er. "Nicht weinen kleiner Vogel." Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht. Er ließ mich los. "Alles okay?" Ich nickte. Dann machten wir uns schweigend auf den Weg zu unserem neuen Zuhause, um Vorbereitungen zu treffen und ließen unser altes Leben zurück, ohne zurück zu blicken.

◇✵◇

A Selection Story: Die Rebellin /  #Wattys2016Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin