~90. Der Traum von damals~

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Ich musste einmal laut schniefen, um meine Tränen zurückzuhalten. Schnell packte ich den Brief wieder in den Umschlag und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Wie ein Häufchen Elend saß ich auf der Couch und weinte vor mich hin. In meinem Kopf spielte sich all unsere gemeinsamen Erlebnisse ab. Als wir gemeinsam reiten waren, das Schwimmen im Meer mit meinen Freunden, wie glücklich Kara immer aussah, wenn sie ein Turnier gewonnen hatte, wie ihre Augen funkelten, wenn sie über etwas redete, dass sie liebte, wie sie sich nachts immer an mich kuschelte, weil sie nicht allein sein wollte und noch viel mehr.
Ich vermisste mein Mädchen, ihre Lebensfreude, ihre Wärme, ihren Geruch und ihre sanften Berührungen, die mich so leicht um den Verstand brachten. Ich musste sie einfach sehen, auch wenn es erst in einer Woche möglich sein wird.

„Es tut mir so leid...", schluchzte ich und legte mein Gesicht in meine Hände.

Zu Hause bei meiner Mutter legte ich mich in mein Bett und schlief auf der Stelle ein. Dieser Tag war mehr als anstrengend und ich wusste, dass diese Woche, die mir noch bevor stand um einiges anstrengender werden würde.

So war es auch.
Die Woche zog sich unangenehm in die Länge und schien kaum ein Ende zu nehmen. Als am Mittwoch der erlösende Anruf kam, konnte ich es kaum abwarten, endlich ins Krankenhaus zu fahren. Sousuke und Yuno holten mich ab und fuhren mich zu ihr. Auf dem Weg ins Krankenhaus erklärte ich den beiden sehr ausführlich, was genau passiert war und dass ich gar keinen Ahnung hatte, was Lillian hinter meinem Rücken veranstaltet hatte.

Wir parkten vor dem weißen Gebäude und machten uns auf den Weg zur Intensivstation. Nachdem uns ein Arzt die Sicherheitsanweisungen erläutert hatte, durften wir endlich zu Kara. Zwar immer nur eine Person einzeln, aber ich konnte schon eine ganze Woche warten, da würde ich diese paar Minuten auch überstehen. Ich ließ Yuno und Sousuke den Vortritt, letzterer wollte jedoch nicht zu Kara, weil er seine Freundin nicht allein lassen wollte, nachdem Yuno völlig verheult in seinen Armen zusammen gebrochen war, nickte er mir nur zu und ich machte mich auf das schlimmste gefasst.

Doch als ich meine Freundin so sah wurde mir schlagartig schlecht. Ich musste schwer schlucken, denn auch wenn ich mich auf das Schlimmste gefasst gemacht hatte, war das hier noch viel schlimmer.

Kara hing an vielen Schläuchen und sah absolut nicht gut aus. Vorsichtig setzte ich mich an ihre rechte Seite und nahm ihre Hand in meine. Ihre Hand war ganz blass und eiskalt, sie war auch nicht mehr so weich, wie ich es gewohnt war. In dem Raum war es völlig still, einzig und allein die Geräusche der Maschinen durchbrachen die Stille.

Einige Minuten saß ich da, musste mich sammeln, denn die Angst, dass das kurze Piepen zu einem langen Ton wurde, war immer da.
Während ich mit meinem Daumen kleine Kreise auf den Handrücken meiner Freundin zeichnete, prägte sich dieses Bild in mein Gedächtnis ein. Ihre braunen lockigen Haare waren schlaff und am Kopf waren vereinzelt kahle Stellen. Das Schlimmste jedoch waren die vielen Schläuche und Kabel, die an ihrem schwachen, dünnen Körper angebracht waren. Mein Herz krampfte sich bei diesem Anblick zusammen und immer wieder musste ich mit den Tränen kämpfen, als ich die Stille nicht mehr aushielt.

„Es...es tut mir so leid. Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber das Mädchen in dem Film konnte es. Ich wünschte das hier wäre ein Film. Es tut mir so verdammt leid. Ich war nie mit Lillian, dieser Schlange, zusammen sie hat sich immer an mich ran gemacht, aber ich habe sie abgeblockt, weil ich nur dich liebe und auch für immer lieben werde. Ich habe dich damals bei meinem Turnier sogar gesehen und habe mich gewundert, warum du nicht auf der Bank für Angehörige gesessen bist, jetzt weiß ich auch warum. Ich wollte danach auch zu dir, aber diese Göre hat mich aufgehalten. Es tut mir leid, was sie dir angetan hat. Auch wenn sich das wie eine billige Entschuldigung anhört, kann ich nicht mehr machen, als zu hoffen, dass du mir vertraust, ich weiß es klingt wie aus einem schlechten Film, aber es war wirklich so und ich weiß auch, dass du mir vertraut hast und ich dieses Vertrauen gebrochen habe. Und noch etwas. Ich kann verstehen, dass es dich verletzt hat, dass wir so gut wie nie telefoniert haben, aber ich verspreche dir, ich war so sehr mit meinem Training beschäftigt und dachte du würdest es auch sein, also wollte ich deine Freizeit nicht verschwenden und wenn ich doch mal versucht habe, dich auf irgendeine Weise zu erreichen, dann hat es Lillian geschafft mich davon abzuhalten. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie leid es mir tut. Ich wünschte ich könnte die Zeit zurück drehen. Ich möchte dich wieder bei mir haben. Ich möchte dein Lachen sehen, deine wunderschöne Stimme hören, deine warmen Berührungen fühlen, dein leckeres Essen genießen, dich umarmen und vor allem möchte ich dich wieder glücklich sehen, glücklich, wenn du mit Akito trainierst, glücklich, wenn du über etwas redest, was dir Spaß macht, glücklich, wenn du drei Mahlzeiten isst und mir sagst, wie stolz du auf dich bist und glücklich, wenn wir uns sehen. Kara verdammt...ich vermisse dich so unendlich. Ich glaube...ich habe noch nie so viel geweint, wie in den letzten zwei Wochen.", müde lächelte ich und wischte mir einige Tränen aus dem Gesicht.

Es brachte sich auch nicht viel, da meine Tränen fasst unaufhörlich flossen. Ein Satz hallte jedoch immer wieder in meinem Kopf nach.

„Nicht mal auf deine Geliebte konntest du Acht geben."

Ich hatte ständig das Gefühl, diesen Satz schonmal irgendwo gehört zu haben, als es mir einfiel.

„Weißt du noch damals, als ich aus einem Traum hochgeschreckt bin und völlig traumatisiert war?", mein Blick ruhte auf der Hand meiner Freundin, auf die ich immer noch kleine Kreise zeichnete.
„Ich habe dir gesagt, dass ich dir diesen Traum noch nicht erzählen kann. Jetzt fühle ich mich bereit dazu. Also denke ich.", nachdem ich mich kurz gesammelt hatte, fuhr ich fort.
„Damals habe ich geträumt, dass wir beide Hand in Hand über eine Wiese gingen, als mein Vater mir entgegen kam. Er nahm deine Hand aus meiner und rief jemanden zu sich, dieser jemand war Liam. Du hattest ihn auf den Arm genommen und warst mit einem traurigen Lächeln meinem Vater gefolgt. Liam hatte mir noch gewunken und dann stand ich allein auf der großen Wiese, die nach und nach zu einem schwarzen Tunnel wurde. Ich wollte euch hinterher rennen, aber ich kam kaum von der Stelle und sah nur eure Silhouetten, die immer undeutlicher wurden. Mein Vater rief mir noch etwas zu, aber es klang, als würde er direkt neben mir stehen. Er meinte so etwas wie.
„Nicht Mal auf deine Geliebte konntest du Acht geben. Ich bin enttäuscht von dir."
Und dann wart ihr völlig verschwunden. Und erst jetzt werden mir einige Dinge klar, die ich damals für komisch hielt. Deine Hände waren damals kalt wie Eis, rau und ganz blass, außerdem glänzten deine Augen nicht in diesem wundervollen Blau, sondern waren eher trüb, als würdest du deinen Kummer überspielen. Deine Arme waren etwas dünner und in dem weißen Kleid, dass sehr nach Krankenhauskleidung aussah, wirktest du dünner als sonst. Hätte ich damals diesen Traum richtig verstanden, hätte ich mehr auf dich aufgepasst."

„Rin kommst du. Die Besuchszeit ist vorbei."
„Ja! Ich bin gleich da!"
„Ich liebe dich. Bis morgen Prinzessin."

Noch schnell drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand dann.

Rin Matsuoka x OCWhere stories live. Discover now